König Murakan und Prinzessin Elenas amüsierten sich auch prächtig, ohne jedoch ihre wichtige Aufgabe zu vergessen. Die Könige zogen sich im Lauf des Abends in die Bibliothek zurück, um in die Beratungen für den Friedensvertrag zu treten. Als Gastgeber eröffnete König Tabian das Gespräch:
„Ich möchte noch einmal meiner Freude Ausdruck verleihen, dass Ihr meiner Einladung zu diesen Gesprächen gefolgt seid. Ich bin der festen Überzeugung, dass unsere beiden Völker durch die Öffnung des Handelsweges zu Wohlstand kommen und sich ihr Horizont erweitern wird. Wir können viel voneinander lernen.“
König Murakan stimmte mit einem Kopfnicken zu:
„Es ist an der Zeit, die Ketten, die die gegenseitigen Vorurteile um uns spannen, zu sprengen. Machen wir uns auf den Weg in eine bessere Zukunft. Unsere Aufgabe als Führer der beiden Völker ist es, vor allem die Sicherheit zu garantieren und Vertrauen aufzubauen. Lasst uns über die Bedingungen verhandeln.“
Die gute Stimmung verhieß ein rasches Einigwerden, beide Könige waren sich im Klaren, wohin sie ihre Völker führen wollten und sie waren bereit, zu geben und auch Verpflichtungen auf sich zu nehmen. Von Anbeginn stand der Schutz und Ausbau der Handelswege im Mittelpunkt der Gespräche und die Herrscher einigten sich auf strengste Strafen für Angriff und Provokation des jeweils anderen. Damit war der Weg offen, um Waren auszutauschen und Reisenden freies Geleit zu ermöglichen. Zweimal im Jahr sollten sich höchste Vertreter beider Länder treffen, um diesen Vertrag an die jeweiligen Ansprüche, die die Zeit mit sich brachte, anzupassen. Die Könige waren äußerst zufrieden mit diesem neuen Verhältnis zwischen Eroenya und Marndron und ließen diesen bahnbrechenden Vertrag von einem Diener niederschreiben, während sie sich wieder in den Festsaal begaben.
Ein Gong, der ihren Eintritt verkündete, ließ die Festgäste mitten in ihren Gesprächen verstummen, die sich in angeregt freundschaftlicher Weise zwischen den Senatoren, Gelehrten und hohen Persönlichkeiten entsponnen hatten und eine überaus angenehme Stimmung im Saal verbreiteten. Jetzt waren alle Blicke mit Spannung auf die Majestäten gerichtet, die gemeinsam auf einer Empore standen und die wesentlichen Eckpunkte des Vertrages wiedergaben.
Als sie ihre Zufriedenheit und Hoffnung für die Zukunft ausdrückten, fielen die Gäste in einen tosenden Applaus, der wohl nicht der Etikette des Festes entsprach, aber der Erleichterung und Freude der Gäste über das neue und friedvolle Miteinander zwischen den Nachbarstaaten ehrlich Ausdruck verlieh.
Nur einer ließ sich von der Begeisterung der Festgäste nicht anstecken und blickte grimmig auf die Herrscher. Heerführer Karrnatan applaudierte zwar, um den Schein zu wahren, doch sein Innerstes brannte vor Wut und Enttäuschung. Dieser Frieden durfte nicht zustande kommen, mit aller Gewalt wollte er das verhindern.
Ganz anders fühlte Amelias, er war sehr zufrieden mit diesem Bündnis und versprach sich das Beste von der Zukunft. Doch die Könige vermochten nicht seine ungeteilte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, sein Blick glitt immer wieder zu Prinzessin Elenas. Und zuweilen trafen sich ihre Blicke sogar, dann lächelten sie sich zart zu und erhoben die Gläser.
Amelias hatte sich ein Herz gefasst und wollte sich gerade einen Weg zu Elenas bahnen, als ihn einer seiner Offiziere ansprach und in ein Gespräch verwickelte. Prinzessin Elenas hatte bemerkt, dass Amelias auf dem Weg zu ihr aufgehalten wurde und nutzte die Gelegenheit, um sich auf den Balkon des Palastes zurückzuziehen.
Das Fest und die Aufregung um den Vertrag war ein wenig viel für die junge Prinzessin und sie wollte an der frischen Luft Erholung von dem Trubel finden. Verzaubert genoss sie den atemberaubenden Anblick, ihre Augen hafteten in der Ferne am schimmernd fließenden Licht des Wasserfalls, das wie Perlen in der Dunkelheit der Nacht glänzte. Fasziniert lehnte sie sich an die Balkonbrüstung und hatte Amelias gar nicht bemerkt, wie er hinter sie getreten war und die Prinzessin voller Verzauberung betrachtete.
„Ein wunderschön friedlicher Anblick, nicht wahr, Prinzessin? Das ist unser Perlenlicht, ein Wasserfall, der hoch oben in den Bergen seinen Ursprung hat.“
„Einfach überwältigend. Noch nie habe ich etwas Vergleichbares gesehen. Wie schön wäre es, das aus der Nähe zu betrachten“, antwortete die Prinzessin, ohne ihren Blick von diesem Geschenk der Natur zu nehmen.
Amelias ließ sich vom sehnsuchtsvollen Ton der Prinzessin verleiten und bot ihr, ohne nachzudenken, an:
„Wenn Ihr keine Angst vor Kaplan habt, Prinzessin, kann ich Euch hinbringen.“
Noch bevor er sein ungehöriges Angebot bedauern konnte, lachte sie ihn an:
„Nur ganz kurz, Heerführer. Ich hole schnell eine Stola und gebe meiner Dienerin Bescheid. Dann brechen wir auf!“
Sie drehte sich um und wollte gerade in den Ballsaal zurückgehen, als ihre Dienerin auf den Balkon trat.
„Bitte bringe mir ein Schultertuch. Ich mache einen kurzen Ausflug zu Perlenlicht.“
Das entsetzte Gesicht der Dienerin veranlasste die Prinzessin hinzuzufügen:
„Mach dir keine Sorgen, Heerführer Amelias begleitet mich, ich werde nicht lange weg sein.“
Eilig entschwanden die Prinzessin und der Heerführer zu den Stallungen, wo im hinteren Teil, abgetrennt von den Pferden, Kaplans Reich war. Amelias bat die Prinzessin, ein paar Schritte zurück zu bleiben, damit er den Tiger in Ruhe begrüßen konnte. Er trat zu Kaplan, streichelte ihn zwischen den Ohren und flüsterte ihm ein paar Worte zu. Dann bedeutete er Elenas auch vorzutreten und führte ihre Hand, damit auch sie den Tiger zwischen den Ohren kraulen konnte. Kaplan genoss die Liebkosung mit einem Schnurren. Damit war das Eis gebrochen und es war auch der Prinzessin erlaubt, mit Amelias auf dem Rücken des Tieres Platz zu nehmen, um zu Perlenlicht aufzubrechen.
Doch dieser nächtliche Ausflug blieb nicht unbemerkt, von einem Fenster aus wurden die beiden beobachtet. Karrnatan presste seine Kiefer aufeinander, seine Augen brannten und seine Finger umschlossen den Krug in seiner Hand so eisern, dass das Metall nachgab. Doch davon bemerkten Elenas und Amelias gar nichts auf ihrem Ritt durch die samtige Nacht, die durch das Mondlicht so erleuchtet wurde, dass sich den beiden der Weg durch die Wälder zu Perlenlicht klar zeigte. Kaplan war auf einer Hügelkuppe stehen geblieben, die die Sicht auf das leuchtende Perlenlicht uneingeschränkt freigab und wo das Tosen des in die Tiefe stürzenden Wasser richtig spürbar war. Elenas verfolgte mit ihrem Blick den Lauf des Wassers, wie es sich in einem Becken fing und sich danach der im Mondlicht glänzende Fluss sanft weiter durch das Tal schlängelte. Die Prinzessin war überwältigt von diesem Naturschauspiel, das sich ihren Augen bot. Sie fühlte die besonders friedvolle Atmosphäre und öffnete ihr Herz, um diesen Augenblick zu genießen. Langsam lenkte Amelias Kaplan ein Stück den Hügel hinunter, sie durchritten ein dichtes Waldstück, bis sie einen Moment später eine Lichtung mit einem glasklaren Teich erreichten, dessen Oberfläche fast unmerklich leuchtete und wie ein Spiegel so glatt vor ihnen lag.
Langsam näherten sie sich dem Wasser und Elenas konnte bis auf den Grund sehen und sie entdeckte Fische und andere Lebewesen darin. Immer noch gefangen in der Stimmung stieg Amelias wortlos von Kaplans Rücken, reichte der Prinzessin seine Hand und führte sie ans Ufer. Beide wandten ihr Gesicht den Felsen zu und genossen den einzigartigen Anblick, wie Perlenfäden stürzte das Wasser herunter. Die Haut wurde von der sprühenden Gischt liebkost und hinterließ ihren frischen Hauch. Das Gesicht der Prinzessin leuchtete vor Begeisterung, sie konnte keine Worte für dieses Wunder finden, noch nie zuvor hatte sie etwas Vergleichbares gesehen. Amelias war sehr davon angetan, wie beeindruckt die Prinzessin von diesem herrlichen Ort war, den auch er selbst so sehr verehrte.
„Es ist einfach unbeschreiblich schön“, flüsterte Elenas so leise, als könnte sie den Moment dieser Schönheit stören.
„Der Legende nach ist dies die erste Quelle der Erde, hier entsteht alles Leben. Jede Kreatur nimmt die ihr eigene Kraft für die Aufgaben des Lebens mit, wie und wo auch immer sich das Schicksal erfüllt, hierher kehren die Seelen zurück.“