DJEZEBEL. Friedrich Hauptvogel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Friedrich Hauptvogel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737526029
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das Gelände steil an. Das Grün des sechsten Lochs lag unmittelbar vor der Waldgrenze. Schon von weitem konnte man die Flagge erkennen, und von oben kam man sich nahezu wie auf einer Aussichtsplattform vor. Als der Professor und Valerie sich bis auf etwa hundert Meter dem Grün genähert hatten, erkannten sie Djezebel und Thomas, die im Schatten der Bäume standen. Als Valerie ihren Annäherungsschlag gemacht hatte und der Professor in Stellung ging, konnten sie sehen, wie die beiden ihre Golfwagen auf den Waldweg zogen, der nach unten zum Schloss führte. Offensichtlich brachen sie die Partie ab. Obwohl Thomas wieder telefonierte, schien er gleichzeitig einen Disput mit Djezebel zu haben, wie seine ärgerlich fahrigen Handbewegungen zeigten. „Seltsam“, murmelte der Professor, „höchst seltsam.“

      ***

      Am Abend waren alle Tische in der großen Halle besetzt. Im Laufe des Nachmittags waren noch viele Gäste angereist. Djezebel und ihr Begleiter saßen schon am selben Tisch wie am Vorabend, als der Professor und Valerie kamen. Der Professor beobachtete, wie sie schweigend ihre Vorspeise aßen. Dann sagte Djezebel etwas, und ein Ausdruck der Ratlosigkeit zeichnete sich im Gesicht des Mannes ab. Sie stand auf, und ging zur Tür. Er zögerte etwas, dann folgte er ihr. Sie kamen nicht wieder.

      „Was hältst du nun davon?“, fragte der Professor nach einer Weile.

      „Die üblichen Abstürze zwischen Liebesleuten“, meinte Valerie ungerührt, und nach einer Weile fügte sie hinzu, „offensichtlich sind die zwei dein bevorzugtes Beobachtungsobjekt geworden.“

      Der Professor lächelte milde. Das Hauptgericht kam, Wildschwein in Burgundersauce. Botho reckte seinen Schädel etwas in die Höhe, und sog den Duft ein, der von den Platten wie die Wohlgerüche des Paradieses auf ihn herabsank.

      Schweigend aßen sie. „Weißt du, was ich heute in der Zeitung gelesen habe?“, sagte Valerie nach einer Weile. „Wenn man bei großen Tennisturnieren die Zeiten addiert, in denen die Spieler wirklich in Aktion sind, dann sind das bei drei Sätzen ungefähr siebzehn Minuten im Schnitt. Ist das nicht unglaublich?“

      „Das ist wirklich kaum zu glauben“, erwiderte der Professor, sah eine Weile nachdenklich auf seinen fast leer gegessenen Teller, nahm mit den Fingern einen vorher sorgfältig beiseitegeschobenen saftigen Bissen des Wildschweinfleischs, tunkte ihn in die dicke Sauce und ließ ihn in des Hundes hochaufgereckte Schnauze gleiten.

      „Weißt du, meine Liebe, welche Rechnung sich ergäbe, wenn man alle wirklich glücklichen Minuten unseres Lebens zusammenzählte? Einen Monat auf sechzig, siebzig Jahre? Vielleicht sogar weniger. Vorausgesetzt, man hat Glück gehabt. Denk an das Wort des Philosophen: ‚Das Leben ist ein Geschäft, das die Kosten nicht deckt.' Sieh dir diese jungen Leute an, denen wir seit zwei Tagen immer wieder begegnen. Von der Natur favorisiert, von den Lebensumständen verwöhnt – und dann diese Gesichter heute Abend.“ Er hatte sich bei diesen Worten in seinen Stuhl zurückgelehnt, hob die Hände etwas in die Höhe und ließ sie resignierend wieder auf den Tisch sinken.

      „Nein, nein“, rief er, als Valerie ansetzte, etwas zu sagen, „diese Kinder sind nur zum kleinen Teil selber schuld, das Leben ist ganz einfach so. Das lehrt uns schon die moderne Physik. Ich habe einmal ein Interview mit einem berühmten Physiker gehört. Am Ende eines langen Gespräches über die Materie und die Entstehung des Universums wurde er nach den Zukunftsaussichten der Erde befragt, und er sagte lachend: ‚In der Natur endet immer alles in der Katastrophe. Unausweichlich. Es ist ein Gesetz.' Und selbst wenn man dem Glück nicht nachjagt und sich nur darauf konzentriert, das Leiden fernzuhalten, sieht die Bilanz nur scheinbar ausgeglichener aus. Und wem gelingt das schon! Du hast gestern von der Munch-Ausstellung in Paris erzählt. Diese Bilder illustrieren unsere Defekte und unsere unvermeidbaren Leiden sehr drastisch.“ Er machte eine Pause. „Ich habe uns übrigens für morgen früh zehn Uhr dreißig auf dem Masterplatz eintragen lassen. Olli hatte recht. Es wird voll. Und jetzt trinken wir noch etwas.“

      Er bestellte eine Flasche Sancerre, und sie saßen noch lange und unterhielten sich. Es war fast Mitternacht, als er sich von Valerie verabschiedete, um mit Botho noch einen kurzen Spaziergang zu machen. Als er zurück kam war die Halle leer. Er ging die Treppe hinauf zu seinem Zimmer. Botho lief ohne anzuhalten an der Tür mit der Nummer sieben vorbei. Der Professor blieb einen Moment stehen, legte horchend den Kopf zur Seite. Totenstille.

      ***

      Am nächsten Morgen um zehn Uhr dreißig schlugen sie ab. Wie eine schmuddelige Bettdecke hing eine Wolkenschicht am Himmel, und es war empfindlich kühl. Sie kamen gut voran. Das siebte Fairway führte als lange Schneise mitten durch den Wald. Die hohen Tannen links und rechts gaben dem Ort eine besondere Atmosphäre feierlicher Ruhe. Mit dem zweiten Schlag hatten sie beide mitten auf das Grün gespielt, das in einem Steinbruch lag.

      „Was hast du?“, fragte Valerie, als sie das ärgerliche Gesicht des Professors sah.

      „Ich habe meinen Putter am letzten Loch liegen lassen“, sagte er. „Na, dann will ich mich mal auf den Weg machen.“

      „Mir tut eine Pause ganz gut. Ich setze mich hier solange auf eine Bank.“

      Der Professor nickte, nahm den Stock, rief: „Auf, Botho“, und ging den Weg zurück. Botho fiel hinter ihm ab und kramte im seitlichen Buschwerk herum. Als der Professor sich dem Waldrand näherte, hörte er ein Geräusch in der Luft, ein gedämpftes, schaufelndes Mahlen. Er beschleunigte seinen Schritt, sah durch die lichter werdenden Bäume einen großen Schatten, der sich auf das sechste Grün herabsenkte. Als er die Waldgrenze erreicht hatte und auf den Hang hinaustrat, landete der kleine Hubschrauber gerade. Zwanzig Meter weiter stand Djezebel, ihre blonden Haare wehten wild im Luftstrom der Rotoren, angstvoll hatte sie sich an Thomas geklammert. Weiter unten am Hang stand das nächste Flight. Es waren vier Männer, die heraufschauten, etwas Unverständliches riefen, mit den Armen in der Luft herumfuchtelten. Hinter Djezebel und Thomas trat ein schwarz gekleideter, massiger Mann mit einer Strumpfmaske über dem Kopf und einem Revolver in der Hand aus dem Unterholz. Während der Hubschrauber auf dem Grün aufsetzte und die Rotorblätter nur noch zuckend umliefen, eilte er zu der jungen Frau und ihrem Begleiter, richtete die Waffe auf sie, schrie sie an, packte Djezebel am Arm, und zog sie zu der Maschine hin. Thomas sprang auf ihn zu, versuchte, den Maskierten von hinten um den Hals zu packen, doch der schwang mit einer geschmeidig tänzelnden Bewegung herum, und schlug ihm den Kolben der Waffe über den Kopf. Obwohl der Schlag verunglückt aussah, begann Thomas zu taumeln. Er hielt sich beide Hände über den Kopf, stürzte. Der Maskierte steckte den Revolver in seinen Hosenbund, umschlang Djezebel mit beiden Armen und schleppte sie zu dem Hubschrauber.

      Mittlerweile hatte sich der Professor in Bewegung gesetzt. Er war gut dreißig Meter von der Gruppe entfernt. Er rannte los, so gut das mit seinem lädierten Bein möglich war. Als wäre zum Halali geblasen, hörte man aus dem Wald Bothos sich überschlagendes Bellen. In Sekunden hatte er den Professor eingeholt, und stürmte an ihm vorbei. Mittlerweile hatte der Maskierte Djezebel in den Hubschrauber hineingestoßen, der Pilot erhöhte die Drehzahl und die Rotorblätter fingen wieder an, schneller zu kreisen. Als Botho ihn erreichte, hatte er gerade vom Boden abgehoben, schon unerreichbar für das Tier. Der Maskierte stand mit einem Fuß noch auf der Kufe, und wollte sich gerade ins Innere schwingen. Er legte den Revolver sorgfältig auf den wütend in die Luft springenden Hund an, und die Kugel der großkalibrigen Waffe traf ihn mitten ins Brustbein. Sie riss den Körper des Airdale fast in zwei Stücke. Als blutiger Klumpen fiel sein Kadaver auf die Erde. Mittlerweile war auch der Professor herangekommen. Weit holte er mit beiden Armen aus, verlor aber auf dem feuchten Rasen den Halt, und der Stock sauste in einer grotesken Ellipse nieder, am Körper des Maskierten vorbei und traf mit einem höhnischen, harmlosen Klirren die Kufe des Hubschraubers. Der Maskierte richtete die Waffe auf den Professor, der am Boden lag. Der rollte sich zusammen wie ein Igel. Der erste Schuss schlug neben seinem Kopf in den Rasen ein, der zweite traf ihn in die linke Schulter. Er schrie auf wie ein waidwundes Tier, und wandte den Kopf nach oben. Schemenhaft sah er durch die Kanzelscheibe neben einem zweiten maskierten Mann Djezebels blasses Gesicht. Einen Augenblick noch schwebte der Hubschrauber auf der Stelle, dann bekamen die Rotoren vollen Antrieb, und in einer sanften Schleife stieg er seitlich in die Höhe. Der Professor verlor das Bewusstsein.

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