Er kehrte nach Deutschland zurück. In Bad Homburg nahm er eine kleine Wohnung, die er nur mit einer spartanischen Einrichtung versah, und in die er nie jemanden einlud. Obwohl er nicht mehr für seinen Broterwerb arbeiten musste, suchte er nach Beschäftigung. Die Frage nach Schuld war nicht mehr nur ein logisches Spiel, ein psychologisches Rätselraten, wie früher in seiner Zeit als Strafverteidiger. Bei mittellosen Angeklagten stellte er sich nun deren Verteidigern ohne Honorar für besondere zeitraubende Ermittlungen zur Verfügung, stellte Kontakte zu schwer zugänglichen wissenschaftlichen Koryphäen her, die von früher wussten, wie sehr er das Verbrechen hasste, und dass er von ihnen keine unehrenhaften Torheiten erwartete. Sein Wille zum Leben war ungebrochen, aber das, was ihm früher alles bedeutet hatte, eine intime, emotionale Bindung an eine Frau, schloss er aus. Diesmal wollte er die Treue bewahren, sein am Hochzeitstag gegebenes Wort halten, auch über den Tod hinaus. Lebenshunger und Lebensüberdruss hielten sich die Waage, bis er beschloss, sich dem Leben zu überlassen, und eine Last von seiner Seele fiel. Er hatte Freude an sportlichen Zweikämpfen, sah manchmal stundenlang im Fernsehen einem Tennisspiel zu, und schaltete dann im fünften Satz ab, weil er nicht Zeuge eines Sieges und einer Niederlage werden wollte. Nach wie vor bedurfte er rauschhafter Eindrücke, Farben, Musik, und sehnte sich nach dem begeisternden Anblick biegsamer Frauenkörper. Aber das innewohnende Versprechen genügte ihm, die Freuden der konkreten Erfüllung waren ihm plump und schal geworden. So sei, wie er Valerie einmal in einem unvermittelt zur Beichtsituation gewordenen Gespräch gestanden hatte, Freundschaft das Äußerste an seelischer Intimität, was er ihr geben könne. Anschließend bat er sie mit seiner zurückgewonnenen zynischen Nüchternheit, das alles zur Kenntnis zu nehmen, er würde nie wieder darauf zu sprechen kommen.
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Am nächsten Tag war er früh auf den Beinen. Sonst ein großer Trödler in den Morgenstunden, zog ihn heute der wilde blaue Himmel hinaus. Die Luft war kalt, und am Horizont türmten sich wattig-graue Wolkengebirge. Botho startete zu seiner üblichen morgendlichen Tour rund um den Schlosshof und kämpfte dabei brüllend ganze Legionen unsichtbarer Feinde nieder, bis er sich zu diskreteren Geschäften abseits in die Büsche schlug.
Da Valerie noch nicht auf war, nahm der Professor bei Reingard in der Caféteria nur einen großen Milchkaffee. Missvergnügt konstatierte Botho, dass damit vorerst auch sein Morgenimbiss ausfallen würde, und folgte seinem Herrn zur noch einsam daliegenden Driving Range. Der ging es langsam an, reckte und streckte sich erst ausgiebig, nahm dann ein Eisen sechs, und schwang es sachte vor und zurück, erst nur einen halben Schwung, dann einen ganzen, ohne Ball, fand langsam seinen Rhythmus, legte dann den ersten Ball vor, und mit einer ruhigen, nahezu langsamen Bewegung führte er das Eisen hoch hinauf, im Gegenschwung dicht am Körper wieder herunter, und mit einem trockenen Knacken wurde der Ball aus seiner Ruhestellung in einer elliptischen Bahn hoch in die Luft katapultiert. Erst nach dem Ausschwung führte der Professor den Kopf nach, und sah den Ball zu seinem höchsten Punkt steigen, einen Sekundenbruchteil verharren und dann zur Erde zurückfallen. Er ließ den Schläger wieder sinken.
„Super“, hörte er hinter sich eine helle Frauenstimme rufen. Er drehte sich um und sah die junge Frau und ihren Begleiter, die er am Abend beobachtet hatte. Er nickte nur knapp, und wandte sich wieder ab. Sie postierten sich ein Stück links von ihm auf gleicher Höhe, so dass er sie beim weiteren Üben im Rücken hatte. Botho hatte strengste Anweisung, sich auf der Driving Range ganz am Zaun zu halten. Dort trippelte er unruhig von einem Bein aufs andere, traute sich aber offensichtlich nicht, von der Order abzuweichen.
Hinter sich hörte der Professor das Geräusch der abgeschlagenen Bälle, begleitet von unterdrückten Ausrufen des Ärgers oder der Zufriedenheit. Nach einigen Minuten drehte er sich um und säuberte sein Eisen von der anhaftenden Erde. Dabei beobachtete er das Paar. Beide hatten Routine, aber das Mädchen schlug konstanter. Ihre schlanke sportliche Figur kam bei der Schlagbewegung gut zur Geltung. Sie trug eine schwarze Hose und eine Jacke aus champagnerfarbener Wildseide. Ein lachsfarbenes Samtband hielt die Haare in einem lässigen Knoten zusammen, nur einige Strähnen hingen absichtsvoll unabsichtlich in die Stirn. Am linken Handgelenk leuchtete eine goldene Kette. Als der Professor seinen Eimer mit den restlichen Bällen, die Schlägertasche sowie den unvermeidlichen Stock aufnahm und dem Ausgang zuging, drehte sich das Mädchen um. Er sah in Augen, wie er noch in keine gesehen hatte: Gletschereis unter der Frühlingssonne in einem Gesicht von federleichter Härte.
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Als er gegen zehn in den Speisesaal des Schlosses zurückkehrte, traf er dort Valerie beim Frühstück.
„Hübsch siehst du aus“, sagte der Professor und küsste sie auf beide Wangen. Valerie strahlte ihn an. „Was ist mit dir los, Hans, aus deinem Mund ein Kompliment zu so früher Stunde?“ Er schmunzelte nur, sagte aber nichts. Reingard kam, und der Professor bestellte heiße Schokolade, sein bevorzugtes Getränk zu dieser Tageszeit. Lange hatte er mit ihr und Olli, der das Getränk verabscheute, verhandeln müssen, bis er durchsetzen konnte, dass sie immer einen Vorrat der guten belgischen Schokolade bereithielten, die allein für das Getränk geeignet war, denn den aufgeschäumten Extrakt zu trinken, welchen die Restaurants und Cafés üblicherweise anboten – sich anzubieten erfrechten, wie der Professor sich ausdrückte –, lehnte er ab. Seitdem steigerte sich aber der Umsatz dieses Produktes erheblich, zumal der Professor meist auch einen Wodka hineingoss, und die anderen Gäste anfingen, es ihm nachzumachen.
„Schon was los auf der Driving Range?“, fragte Valerie.
Der Professor biss gerade in ein Butterbrötchen. „Nein, aber das Pärchen von gestern Abend ist fleißig am Üben. Gute Spieler, besonders sie.“
Olli betrat den Raum. Auf die Frage des Professors, wer die junge Frau sei, schwieg er zunächst, und sein Blick heftete sich forschend auf ihn.
„Das ist Djezebel van Straaten“, sagte er schließlich, und als er keine Reaktion sah, wiederholte er es. „Djezebel van Straaten – die Erbin der Zentaur-Gruppe. Und ihr Begleiter ist Thomas Wagenbach, der Sohn des Testamentsvollstreckers.“ Er musste sich sichtlich zu einem Lächeln zwingen, als er sah, dass der Professor begriffen hatte. „Die junge Dame ist das einzige Kind Horst van Straatens, der vor drei Jahren gestorben ist. Seine Tochter ist die Alleinerbin.“ Sein Gesichtsausdruck war so, dass man nicht auf weitere Erläuterungen hoffen durfte.
„Die Zentaur-Gruppe ist ein riesiger Konzern mit Beteiligungen im gesamten Medienbereich“, sagte Valerie zu dem Professor gewandt. „Als der alte Herr starb, stand in den Zeitungen, dass die Erbschaft ungefähr eine Milliarde wert ist.“
„Und das alles gehört diesem jungen Ding?“, fragte der Professor.
„Wie man's nimmt“, entgegnete Olli, dem das Thema lästig zu werden schien, „so ganz Herr oder vielmehr Frau im Hause ist sie nicht. Es gibt eine Testamentsvollstreckung. Aber juristisch ist alles ihr Eigentum.“
Der Professor trank ungerührt den Rest seiner Schokolade aus. „Halb elf“, rief er, „ich schlage vor, wir machen jetzt den Kurzplatz, und gehen heute Nachmittag auf den Masterplatz.“
Als sie abschlugen, lag die Landschaft in gleißendem Sonnenschein. Man spürte nicht, wie kalt die Luft noch war. Vom Ende des Tales her staffelten sich tiefe graue Schneewolken über das Blau des Himmels.
Hart verlief die Schattengrenze über den Platz. Das Flight vor ihnen war drei Löcher entfernt, so kamen sie ungehindert voran. Als sie am vierten einlochten, wurde es düster