Terra Aluvis
I
Nox Laurentius Murawski
alias Van Syl Production
2. Auflage
Copyright: © 2015 Nox Laurentius Murawski
alias Van Syl Production
Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
ISBN 978-3-7375-0198-9
Legende:
1 – Eksaph
2 – die Prinzresidenz
3 – Tyurin
4 – Rafalgar
5 – Breys Pferdehof
6 – Kanfar
Schatten ferner Zeiten
Sie weinen …
Nur der Mond lauscht den Tränen jener
Die zwischen Leben und Tod wanken
~Prolog~
"Mein Freund,
Die Welt hat sich gewandelt …
Die Menschen, die sie bevölkern, sind in Angst und Schrecken versetzt, während ihre Zahl auf unerklärliche Art und Weise von Nacht zu Nacht schrumpft. Sie verschwinden einfach und kehren nicht zurück.
Die Jeremiaden der Verbliebenen gelten den Tieren, denen sie die Schuld geben. Als Opfer außer Kontrolle geratener Verzweiflung werden sie erbarmungslos gejagt und ihres Lebens beraubt. Die Wölfe als 'Inkarnation des Bösen' seien die Ursache von allem, was geschehen ist.
Mit dieser Illusion haben die Menschen Schilde um ihre Städte errichtet, um sich vor jeglichen Tieren abzuschotten …
– Nur mit dem kleinen Fehler, dass ihr Feind kein Tier ist."
(Alran der Weise)
~1~
Die Nebelschleier hingen schwer vor dem Antlitz des Himmels und erlaubten ihm nicht, sein Sternenlicht zur Erde zu tragen. Kein Wind regte sich in dieser Nacht, ja, die Luft schien fast zu stehen, wenngleich einem die Kälte im Tal des Eksaph einen Schauer nach dem anderen über den Rücken zu jagen vermochte.
Die kleine Siedlung, welche zu jener Nacht nicht mehr als hundert Seelen zählte, war ungewöhnlich weit abseits von der Hauptstadt der Menschen Hymaetica Aluvis gelegen; denn Hymaetica befand sich an der Küste zum Ozean der Träume, um welche sich die anderen Dörfer und Städte angesiedelt hatten. Eksaph hingegen lag tief in der Wildnis des Gebirges des Grauens verborgen und war nur sehr schwer zu erreichen. Und doch hatte diese Kleinstadt, wie alle größeren Menschensiedlungen, diesen einen kleinen Schutz: die Schilde der Wissenden – so unbedeutend, so wertlos gegen das, wogegen sie sich zu schützen erhofften …
Während dieser mondlosen Nacht inmitten dieser verlorenen Berggegend, ja, ausgerechnet zu diesem abgelegenen Ort – geprägt durch einsame Adler, deren verzweifelter Ruf von den kahlen Gipfeln widerhallte – waren sie gekommen.
Sie, denen die verfluchten Schatten gehorchten. Sie, die sich zu Herren über das Schicksal gemacht hatten. Sie, welche die Verdammnis mit sich brachten.
Celine blickte gedankenverloren an die dunkle Decke ihrer Kammer. Vor ihrem inneren Auge sah sie Lewyn gegen das Licht der Sonne vom Pferd zu ihr herab lächeln. Dabei erklärte er ihr, dass er einen Brief an den Prinzen zu überbringen hatte und in einer Woche zurückkehren würde. In einer Woche also …
Danach war der junge Mann zügig auf seinem Pferd davongeritten und zu einer verschwommenen Silhouette am Horizont geworden – auf dem Weg zu Sacris Faryen, dem Prinzen der Menschen und zugleich Lewyns und Celines bestem Freund.
Das Mädchen musste unweigerlich schmunzeln, als sie sich daran entsann, wie sie alle noch vor wenigen Jahren zu dritt herumgetollt hatten … Ach, es waren schöne Erinnerungen …! Voll Leichtigkeit und Unbefangenheit …
Seitdem Celine im Alter von neun Jahren von Lewyns Eltern aufgenommen worden war, hatte sie viel Zeit mit den beiden verbracht, obwohl jeder letztlich seinen ganz eigenen Weg gegangen war. Sie selbst setzte die Tätigkeit ihrer verstorbenen Mutter als Heilkundige des Dorfes fort, half den Menschen, wo sie nur konnte, und fand darin ihre Erfüllung. Sacris dagegen wurde in der Hauptstadt Hymaetica gelehrt, eines Tages als König das Reich der Menschen zu regieren. Und Lewyn lebte als Knappe an der Seite eines großen Kriegsveteranen – und zugleich Sacris' Schwertlehrers – und reiste im Reich umher, um die Aufträge seines Herrn auszuführen. Kurz: eine Medica, ein Kronprinz und ein Knappe …
Die jungen Männer waren für Celine immer wie Brüder gewesen und hatten sich stets um sie gekümmert. In der vergangenen Zeit hatten sie sich allerdings seltener gesehen – zu eingenommen war ein jeder von seinem Leben gewesen. Doch hatte Celine sich nie allein gefühlt; denn die Bewohner Eksaphs liebten und respektierten sie für das, was sie tat, und waren dankbar für ihre Hilfe und Mühe. Vielen von ihnen hatte sie bereits das Leben gerettet und würde gewisslich noch vielen weiteren Menschen das Leben retten.
Die junge Frau lächelte zufrieden. Sie hatte wirklich keinen Grund, sich zu beschweren. Es ging ihr gut, wirklich gut … Sie kuschelte sich in die weichen Kissen ihres Bettes, schloss glücklich die Augen und verfiel bereits nach kürzester Zeit in einen tiefen Schlummer …
Im Traum erschien Celine dann jedoch eine eigenartige, fremde Gestalt: eine junge Frau. Sie war zierlich gebaut und besaß ein prächtiges, weißes Kleid, das dennoch zerschlissen wirkte. Ihre blassen Wangen waren von bitteren Tränen benetzt, während ihr langes, seidig hellblondes Haar vom Wind in alle Richtungen geweht wurde. Leises Schluchzen ließ ihre Schultern beben und sie legte sich die fahlen Hände voll Kummer ins Gesicht.
Celine sah sie sprachlos an. "Mutter …", kam es über ihre Lippen, doch klang ihre Stimme viel zu hell, viel zu hoch – eine Stimme, die sie, wenn überhaupt, dann wohl vor vielen Jahren gehabt haben musste. Die Gestalt wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, ehe der Wind drehte und dafür sorgte, dass das lange Haar das halbe Gesicht verdeckte. Die schlanke Frau wurde plötzlich ganz ruhig, hob ihren Kopf zu Celine hin und hauchte: "Es tut mir so leid …"
Das Mädchen begriff nicht. Sie setzte zu einer Frage an, nur wollten sich ihre Lippen nicht öffnen! So wandte sich ihr Gegenüber langsam ab und schritt davon. "… tut mir leid …", drang es noch leiser als zuvor an ihre Ohren.
Celine wollte der Frau folgen, zu ihr aufschließen, sie fragen, wovon sie sprach, sie fragen, was das zu bedeuten hatte! – aber ihr Leib gehorchte ihr nicht und fesselte sie an Ort und Stelle. "… so leid …", hallten die Worte wie ein Schatten in ihrem Geiste wider, während die Gestalt zum Licht ging, das kleine Mädchen verloren am Boden in der Dunkelheit zurücklassend …
– Celine schrak schwer atmend auf. Sie bekam kaum Luft und hatte das Gefühl, vergebens darum zu ringen. Also erhob sie sich von ihrem Bett, lief durch das dunkle Zimmer zum Fenster hin und riss es mit einem kräftigen Ruck auf. Ein mächtiger Windzug fuhr durch die Kammer und wirbelte den großen Stapel Karten vom Tisch herab, welcher sich unter dem Fenster befunden hatte. Celine bemerkte es aber nicht und schloss befreit die Augen, um die frische Luft in tiefen Zügen einzuatmen …
Doch bereits nach wenigen Momenten hatte sich die Brise völlig gelegt. Stattdessen kroch der Nebel der Nacht leise verhängnisvoll in das Zimmer hinein und legte sich als träge Woge in die Lungen des Mädchens. Celine drehte sich nun vom Fenster weg und sah die Karten auf dem Boden liegen. "Meine … Seherkarten …", kam es zögernd von ihr, während sie begann, diese langsam wieder aufzusammeln.
Celine besaß die seltene Gabe, in des Schicksals Fäden hineinspähen zu können. Sie wurde regelmäßig von Visionen und Träumen heimgesucht; ein Schicksalsblick skurriler als der andere. Die Seherkarten verhalfen ihr dazu, den Sinn jener fremdartigen Botschaften zu enträtseln – so hoffte sie zumindest.
Mit