Konzerne und Industrieunternehmen dagegen waren in dieser Periode sukzessive, gemäß ihrem Drang, lohnendere Märkte zu erobern, nach Asien und Südamerika weitergezogen. Das Gros der Arbeitsplätze wurde in sogenannte aufstrebende Nationen ausgelagert. In Deutschland beließ man, wenn überhaupt, nur die Konzernzentralen. Lediglich in einigen der alten Produktionsstätten wurden noch diverse Jobs angeboten. Arbeitsverträge vergab man nur wochenweise und die Verdienste, die dort zu erzielen waren, reichten kaum zum Leben. Trotzdem spielten sich an jedem Montagmorgen die gleichen Szenen vor den Werkstoren ab. Um jede angebotene Stelle wetteiferten ein Dutzend Interessenten, und wem es nicht gelang, einen der heißbegehrten Wochenverträge zu ergattern, und wer auch ansonsten keine Möglichkeit des Gelderwerbs fand, wie etwa durch private Dienstleistungen, dem blieb oftmals nur der Einsatz von Überlebenstechniken, die getrost als akrobatisch zu bezeichnen waren.
Auch EuroPharm beschäftigte Wochenlöhner. Um seine Verbundenheit zur Heimat zu demonstrieren, residierte der Vorstand weiterhin in Berlin. Entwicklung, Produktion und andere wichtige Ressorts, insgesamt fast dreihunderttausend Arbeitsplätze, waren schrittweise nach China verlegt worden. In Deutschland existierten, neben einigen Prüf- und Kontrolllabors, nur noch die Auslieferungslager für den inländischen Handel. Jeden Sonntagnachmittag bildeten sich vor dem Firmengelände bereits Schlangen. Die Frühschicht begann am Montag um sechs, das Auswahlverfahren für die Arbeitskräfte zwei Stunden vorher. Für die Prozedur ging man durch eine der Schleusen am Werkstor, wo ein Lesegerät den Gesundheitszustand vom personal chip scannte. Wer für tauglich befunden wurde, erhielt eine sechs Tage gültige Arbeitserlaubnis, die ihm für die nächste Woche beileibe kein üppiges Leben, zumindest aber das Überleben sicherstellte.
Im Gegensatz zu anderen großen Unternehmenssparten hatte die Rüstungsindustrie Deutschland nicht den Rücken gekehrt. Um unabhängig von Vorschriften weltweit ihre Güter zu vertreiben, strebte ihre Lobby nach rechtlicher Autonomie, die sie mit der Drohung erwarb, als eine der letzten produktiven Gewerbe das Land zu verlassen. Die Regierung lenkte ein und ließ die Manager gewähren.
Die Abwanderung der Konzerne und die damit einhergehenden Steuerrückgänge brachten Deutschland an den Rand des Staatsbankrottes. Verschärft wurde die ruinöse Bilanz zusätzlich durch die Auswirkungen der Großen Grippe, die zwischenzeitlich wütete. Das Land verlor ein Drittel seiner Bevölkerung, vornehmlich junge Leute. Vielerorts lohnte es nicht mehr, die Infrastruktur zu erhalten, geschweige denn auszubauen. Der Verfall der Städte vollzog sich schleichend. Aufgrund des stark zurückgegangenen Individualverkehrs wurden kaum noch Straßen repariert, wichtige Bahnlinien mussten aufgegeben werden und viele öffentliche Einrichtungen fielen notwendigen Sparmaßnahmen zum Opfer. Einzig in Ämter und Behörden, in Polizei und insbesondere in das Militär investierte man weiterhin großzügig.
Eine andere Strategie als die Industriekonzerne verfolgte die Finanzbranche, die am Standort Deutschland festhielt. Der Einfluss der Geldmärkte hatte rund um den Globus dramatisch zugenommen. Durch ihre Kreditsysteme kontrollierten sie alle wichtigen Nationen. Ziel der Bankenkartelle war es in letzter Konsequenz, an der Spitze einer elitären »Eine-Welt-Regierung« zu stehen, was sie seit einiger Zeit auch immer öfter und vehementer einforderten. Deutschland, ein von fortschreitender Deindustriealisierung ergriffenes Land, in dem man sich von jeglichem Engagement, das mit Geldwirtschaft zu tun hatte, den dringend herbeigesehnten Aufschwung erhoffte und wo deshalb kaum mit politischer Gegenwehr zu rechnen war, bot als Standort zur Verfolgung ihrer ehrgeizigen Ziele beste Bedingungen. So war der Kanzler in der Hoffnung, die völlig aus dem Ruder gelaufene Staatsverschuldung wieder in den Griff zu bekommen, damals der Forderung des Vorstandes des größten nationalen Bankenkonsortiums, Wolf Gulau, nachgekommen, ihm das Finanzministerium zu unterstellen. Die Finanzen von einem Fachmann managen zu lassen hielt er offenbar für eine vernünftige Idee. Der größte Gläubiger aber war dessen eigene Bank, die Germania Bank. In seiner neuen Funktion als Finanzminister trieb dieser den Staat in immer höhere Schulden. Aber damit nicht genug: Er legte dem Parlament einen Gesetzentwurf vor, nach dem alle Steuergelder, die bisher in die Länder- und Gemeindetöpfe flossen, an die zentrale Staatskasse abzuführen und von dort wieder neu aufzuteilen waren. Außer den zwingend notwendigen Zuweisungen zur Erfüllung der kommunalen Pflichten, die im Wesentlichen nur noch aus der Vollzugskontrolle von Gesetzen und Vorschriften bestanden, oblag jede weitere Mittelvergabe allein seinem Gutdünken.
Ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur uneingeschränkten Herrschaft über die Finanzen war, die Öffentlichkeit hinter sich zu bringen. Durch absichtsvoll herbeigeführte Krisen und geschickt orchestrierte Medienkampagnen hatten viele Menschen ihre Ersparnisse verloren. So aufgestachelt verlangten sie daher immer lauter nach einem fähigen Mann an der Spitze des Finanzressorts, einem, der etwas vom Geld verstünde. Und wer anderes konnte das sein, als ein mit allen Wassern gewaschener Banker. Dass sie dabei ausgerechnet nach dem Verursacher ihrer Misere riefen, erkannten sie auch dieses Mal nicht. Damit war Gulaus Bank de facto in der Lage, den Staatshaushalt lückenlos zu kontrollieren. Auf die Frage eines Journalisten, was ihn denn eigentlich zu politischer Arbeit befähige, antwortete Gulau einmal: »Der Staat benötigt Geld. Meine Bank erzeugt Geld.« Als der Journalist nachfragte, ob es denn nicht eher so sei, dass speziell die Germania Bank weniger Geld erzeuge, als vielmehr vorhandene Werte so abstrahiere, dass die Verbindlichkeiten immer beim Staat, die Gewinne aber immer bei der Bank lägen und dass er den Fiskus somit zu seiner privaten Profitmaschine umfunktioniert habe, brach er das Interview mit einem: »Wie war nochmal Ihr Name?« ab.
Korrumpierte Parlamentarier segneten Gulaus neues Gesetz ab, ohne sich auch nur im Ansatz über seine Folgen im Klaren zu sein. Von nun an existierten die Prinzipien des Föderalismus und die Souveränität der Länder als Bestandteil im politischen System Deutschlands nur noch auf dem Papier. Bürgermeister und Landräte prophezeiten, dass die neue Gelderverteilung, wie man sie sich hinter verschlossenen Türen ausgedacht und dann in den staatlichen Medien als innovative Reform des deutschen Finanz- und Steuerrechts verkündet hatte, nicht funktionieren würde. Eine Einschätzung, mit der sie recht behalten sollten. Städte und Gemeinden verhungerten am ausgestreckten Arm. Notwendige Mittel zur Aufrechterhaltung des öffentlichen Lebens waren praktisch nicht mehr vorhanden. Der Betrieb von Kliniken und Krankenhäusern konnte, ebenso wie der von Bildungseinrichtungen, nur noch in stark eingeschränktem Maße sichergestellt werden. Auch für den Erhalt von kulturhistorisch wertvollen Gemäuern standen keine Gelder mehr zur Verfügung. Die finanzielle Notlage zwang die Länder, Schlösser, Burgen und Museen samt ihrer Kunstschätze zu veräußern. Kultur rechnete sich ohnehin nicht mehr, seit der größte Teil der Menschen im Land kein regelmäßiges Einkommen mehr erzielte und sein knappes Salär für etwas Essbares zusammenhalten musste. Zudem verband man mit dieser Maßnahme die Hoffnung, dass das kulturelle Erbe von privaten Händen besser gepflegt werden würde, als die klammen Länder und Gemeinden dazu noch imstande gewesen wären.
Die Grundstruktur der Gesellschaft hatte sich verändert. Nachdem der Mittelstand durch einen nicht länger verkraftbaren, finanziellen Aderlass weitgehend zerrieben war, gliederte sie sich im Wesentlichen in ein auf nur noch zwei Schichtungen reduziertes System: in die oben positionierten Eliten und die dominierten Massen in den unteren Etagen der Gesellschaftspyramide. Die umgreifende Verarmung hatte viele in eine prekäre Lebenssituation gebracht. Irgendjemand hatte sich selbst einmal als »Brick« bezeichnet, was im Englischen so viel wie »Ziegel« bedeutet, in erweitertem Sinne aber auch mit »Brikett« übersetzt werden kann. Eine kritische Selbstreflexion hatte ihm die Erkenntnis eingebracht, dass er, gleich einem Mauerstein, wohl nützlicher