Nach dem Tod seiner Frau war er keine neue Beziehung wieder eingegangen. Der Schmerz über den Verlust saß zu tief. Noch nach Jahren, als die Zeit die Wunden leidlich geheilt hatte, glaubte er, seine Erfüllung allein in seinem Beruf gefunden zu haben und dass eine Frau in seinem Leben wohl keinen Platz wieder fände. Mit dem Alleinsein hatte er sich arrangiert, auch wenn ihm die allabendliche Leere in seiner kleinen Wohnung bisweilen schwermütige Momente bescherte.
Nach dem Studium hatte es ihn zur Marine gezogen. Einmal die Meere zu befahren war ein Traum, den er als kleiner Junge schon träumte. Er entschied sich für eine Offizierslaufbahn bei den Seestreitkräften. Eine degenerierte Bandscheibe bereitete seiner militärischen Karriere jedoch ein vorzeitiges Ende. Nach achtjähriger Dienstzeit wurde er als Fähnrich zur See entlassen.
Danach tauschte er die eine Uniform gegen eine andere. Er absolvierte ein Praktikum bei der Kriminalpolizei in Hamburg. Brandt wurde der Sonderkommission »Robin Hood« zugeteilt, die seit Wochen hinter einem Serienmörder her war, der seine Verbrechen ausschließlich in Hautevolee-Kreisen beging. Man fand seine Opfer allesamt erstickt. Robin Hood, wie sich der Täter selber nannte, hatte ihnen bündelweise Geldscheine in den Rachen gestopft und dann Mund und Nase mit Paketklebeband verschlossen. Er verstand sich, so hatte er es in einem Bekennerschreiben kundgetan, als korrigierendes Element in einer Welt voller Missverhältnisse. Wer im Überfluss lebe, solle auch am Überfluss sterben, lautete sein Credo. Tatsächlich fand er in den Reihen der armen Bevölkerungsschichten Sympathisanten, die ihn geradeheraus zum Helden verklärten. Für Brandt aber, in dessen Weltanschauung Recht und Gerechtigkeit höchste Wertschätzung genossen, war dieser Kerl nichts anderes als ein brutaler Verbrecher. Er war maßgeblich an seiner Ergreifung beteiligt. Dass dank seiner Hilfe dem Recht Genüge getan werden konnte, hatte ihm eine tiefe Genugtuung bereitet. Ebendieses Hochgefühl und ein gleichzeitiger nüchterner Kassensturz seiner Talente und Interessen verschafften ihm die Gewissheit, dass eine andere Laufbahn als die des Kriminalisten für ihn nun nicht mehr in Frage käme.
Jetzt, mehr als zwanzig Jahre später, als er vor dem toten Industriebaron stand, kam ihm der Fall von damals wieder in den Sinn. Reflexartig suchte er nach Zusammenhängen. Robin Hood hatte noch in der Untersuchungshaft seinem Leben ein Ende gesetzt, indem er sich einen Kugelschreiber bis zum Anschlag ins Auge rammte. Trieb da vielleicht wieder so ein Verrückter sein Unwesen, ahmte da womöglich jemand diese kaum zu begreifenden Taten nach?
In diesem Moment fielen ihm die eindringlichen Worte, die Staatsanwalt von Stauffen ihm vorhin mit auf den Weg gegeben hatte, ein: »Wir brauchen einen schnellen Ermittlungserfolg, Herr Brandt! Wir reden hier von einem Wirtschaftsmagnaten, der von uns aufwendig bewacht wurde. Sein Tod könnte unabsehbare Konsequenzen haben. Die Mittel für ARGUS werden nur solange fließen, wie wir erfolgreich sind. Wenn sich die Souveräne unseres Schutzes nicht mehr sicher sind ... Ich meine, wir leben zu einem guten Teil von diesen Einnahmen. Wir müssen unabkömmlich bleiben, verstehen Sie. Also schaffen Sie mir den Täter her!«
Mit der Reform der bewaffneten Exekutivorgane waren Polizei und Militär zu den »Supranationalen Sicherheitsorganen« zusammengelegt worden. Fortan veränderte sich die Aufgabe der Kriminalpolizei dahingehend, dass sie weniger für die Verfolgung von Straftaten im Allgemeinen zuständig war, sondern vorzugsweise dann tätig wurde, wenn Souveräne, wie sich die Eliten der Gesellschaft neudeutsch nannten, direkt oder indirekt von Delikten berührt waren. Konflikte in den unteren Schichten überließ man weitgehend dem Selbstlauf. Erziehungsmaßnahmen wie Gefängnisstrafen kamen immer seltener zur Anwendung, weil eine andere Form des Freiheitsentzuges sich als rentabler wie auch umfassend wirksamer erwiesen hatte, als jeder Aufenthalt in einer Zelle: Die Mangelsituation zwang die Bevölkerung, unverhältnismäßig viel Zeit zur Deckung ihrer natürlichen Lebensbedürfnisse aufzuwenden. Gleichzeitig vertraute man auf die zunehmende Entbildung der Massen, die Begehrlichkeiten und damit einhergehende Straftaten schon deshalb einschränkte, weil sie dort kaum noch vorstellbar waren.
Ein wesentlicher Bestandteil der Reform war ARGUS, ein Programm zum Schutz der Souveräne. Mit seiner Einführung erhielten die Kriminalämter Anteile aus den Erlösen, die die Nutznießer des Programmes zu entrichten hatten. So stellte man sicher, dass die Polizei den Privilegierten ihre ungeteilte Aufmerksamkeit widmete. Diese Praktik hatte sich seit einigen Jahren bewährt und in Polizeikreisen wollte man das großzügige und somit heißbegehrte Zubrot längst nicht mehr missen. Ein Ausfall der Maßnahme hätte unweigerlich eine drastische Minderung ihrer Einkünfte zur Folge. Die Honoratiorenschaft zahlte für ihre Sicherheit und erwartete dafür zuverlässigen Schutz.
Brandt war damals der Ideengeber für das Programm - ARGUS stand für adaptable & reliable guard system - gewesen. Nach dem massenhaften Exodus der Industrie aus Deutschland und den nachfolgenden Unruhen wurde ein kleines Team beauftragt, ein verbessertes Konzept für den privaten Personenschutz zu entwickeln. Der »Vorzeigebulle der Nation«, wie die Medien ihn damals nannten, war für seine Planung und die anschließende Umsetzung verpflichtet worden. ARGUS war ein ausgeklügeltes Zusammenspiel aus lückenlosem Monitoring schutzwürdiger Personen, ihrem sicheren Transport sowie individuell anpassbarer Überwachungselektronik auf deren Privatgrund. Nach einem Jahr Entwicklungsarbeit war ARGUS soweit ausgereift, dass es vom Innenminister erwartungsvoll und dankend absegnet werden konnte. Danach hatte Brandt die Zuständigkeit wieder abgegeben. Er sah seine Aufgabe nicht darin, die Funktionalität eines Bewachungssystems auf dem neuesten Stand zu halten, um dem Einfallsreichtum politisch Andersdenkender zu begegnen. Das wäre ein Job für jemanden, der den bequemen Beamtenalltag in einem geheizten Büro suchte. Nachdem das Konzept stand, sollte seine Sache wieder die Arbeit an den Brennpunkten sein.
Ursprünglich war ARGUS nur für die Bewachung von Politikern und Großindustriellen vorgesehen. Später wurde der maßgeschneiderte Schutz jedem ermöglicht, der Willens und in der Lage war, die nicht unerheblichen Kosten dafür zu berappen. Der zu schützende Personenkreis umfasste inzwischen auch Militärs, kirchliche Würdenträger, Adlige, prominente Ärzte und Anwälte, ebenso wie zu Wohlstand gekommene Sportler oder Künstler. Als sich die Krawalle auszuweiten begannen, ging die Angst unter den Souveränen um. Eines Morgens fand man einen Abgeordneten, der sich als erster für die Abschaffung der Rentenzahlungen ausgesprochen hatte, am Terrassendach vor seinem Haus erhängt auf. Seither verkaufte sich ARGUS wie die sprichwörtlichen warmen Semmeln.
Brandt war besorgt. »Ich muss nicht erwähnen, welche Auswirkung Avarans Tod auf unsere Budgetierung haben könnte. Stellt sich unser Schutzprogramm als unzuverlässig heraus, haben wir ein Problem.«
Uhland grinste. »Da fällt mir spontan ein Personenkreis mit einem weit größeren Problem ein.«
Verbindungen, wie die Natur sie versteht, zeichnen durch ihre Fertilität für Bestand und Entwicklung des Seins auf diesem Planeten verantwortlich. Ihre Früchte weisen elterliche Merkmale auf, wobei sich über die Generationen immer die mit dem besseren Anpassungsvermögen an die vorhandenen Umweltbedingungen durchsetzen. Somit ist das Werden, wenngleich nur eingeschränkt vorhersehbar, gewährleistet. Es ist ein kontinuierlicher Fluss hin zu einer nie vollendeten Reife.
Aus einer Verbindung von Kapital und Politik hingegen entsteht ein Artefakt, ein impotenter, inkurabler Homunkulus, in dem jegliche Entwicklung ihren Schlusspunkt findet. Um aber ihrer Profit generierenden, Macht verbriefenden Frucht die Existenz zu wahren, bedienen sich ihre Eltern verschiedener lebenserhaltender Strategien, wie Manipulationen auf der einen und Verordnungen, welche dieselben legitimieren sollen, auf der anderen Seite. Wesentliche Voraussetzung, dass die gesellschaftliche Balance währenddessen nicht in eine womöglich gefährliche Unwucht trudelt, ist die umfassende Kontrolle derer, die derlei Methodik nicht nur hinzunehmen, sondern auch tunlichst zu bejubeln haben.
Ein gutes Jahrzehnt war es her, dass der Staat die Aufsicht über die Haushalte von Städten und Gemeinden übernommen hatte. Ziel war der Zugriff auf das gesamte Steueraufkommen durch den Finanzminister, was nichts anderem als einer kommunalen Komplett-Insolvenz gleichkam. Wenn Regierung und Länder anfangs noch um einen tragfähigen Kompromiss zur geänderten Mittelverteilung gerungen hatten,