Galisia. Gerald Förster. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerald Förster
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783741899249
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in Sekundenschnelle aufklären. Aber fällt die Technik aus ... ich meine, Sie und Kallenbach haben bestimmt schon eine Idee, wie Sie den Fall angehen werden. Ich dagegen wäre völlig ratlos. Meine Generation muss aufpassen, dass ihr solche Dinge wie der richtige Riecher, der sechste Sinn, nicht völlig verloren gehen.«

      Brandt antwortete nicht. »Und zum anderen?«, fragte er stattdessen.

      »Zum anderen durfte ich heute mit Vergnügen erfahren, wie anfällig das Regime ist. Die Cäsaren sind von Brutusen umgeben, die allesamt den Dolch im Gewande tragen. Die Macht steht auf tönernen Füßen.«

      Brandt nickte. »Vergessen Sie beides nicht!«

      Der Hüne mit der schwarzen Sonnenbrille öffnete das Tor und ließ die beiden ein. »Guten Morgen, Herr Hauser«, begrüßte der Kommissar den Wachmann. »Mein Mitarbeiter möchte Ihre Aussagen von gestern früh aufnehmen und ich würde mich gerne noch einmal im oberen Stockwerk umsehen.«

      »Gehen Sie nach oben, Kommissar. Sie kennen ja den Weg.«

      Neideck zückte sein Interface und wandte sich Hauser zu, während Brandt im Treppenhaus verschwand. Jetzt stand er allein in Avarans Schlafgemach und ließ den Raum eine Weile auf sich wirken. Mit dunklem Holz vertäfelte Wände und Decken, ein mit dicken Teppichen belegter Eichendielenfußboden, schwere weinrote Samtvorhänge, Messingleuchter und altes, massives Holzmobilar verliehen dem Zimmer eine beinahe mystische Atmosphäre. So lebt also jemand, dessen Portfolio ein Volumen von einer Viertelbillion Neuer D-Mark umfasst, dachte er. Nobel, vielleicht etwas düster. Jetzt stand er genau an der Stelle, an der er auf dem Monitor den Täter gesehen hatte. Zwei Minuten hatten ihm genügt, Avaran das Gift in den Hals zu jagen und ihm dann noch ein A auf den Leib zu brennen. Er hatte präzise geplant und gearbeitet. Aber das war auch schon alles, worüber Klarheit bestand. Nachdenklich ließ er sich in einem der mit feinen, tannengrünen Mochetto bezogenen Ohrensessel nieder und sah durch das große Erkerfenster hinunter auf den alten Strom. Das Sonnenlicht brach sich auf den sanften Wellen und eine leichte Brise wehte über das Wasser. Die große Rinne, dachte er, was hat dieser Fluss nicht schon alles gesehen. Eine Jungfrau mit wehendem Goldhaar, die einst von hohem Fels vorbeifahrende Schiffer mit ihrem Gesang verwirrte, – warum hatte die eigentlich das Gesicht von Thea Voss? – den Nibelungenschatz, der auf seinem Grund die letzte Ruhe fand, Raubritter, die auf stolzen Burgen hausten, Könige, Schlachten, Kriege, große Kriege, eine wieder auferstandene Republik und ihren schleichenden Verfall. Und heute? Heute hausen wieder Raubritter auf den Burgen.

      Was ist das, diese Besessenheit, jedes gesunde Maß der Bedürfnisbefriedigung überschreiten zu müssen, dieses scheinbar zwanghafte Eifern nach Besitz, fragte sich Brandt in Anbetracht des toten Hausherren, der einen Großteil seines Geldes aufwandte, sich einen vergoldeten, aber wie sich am Ende herausstellen sollte, nutzlosen Hochsicherheitstrakt zu schaffen? Hatte sich Avaran für unsterblich gehalten, hatte er, angesichts seines bar jeder moralischen Bedenken vermehrten Wohlstandes ernsthaft an seinen Frieden geglaubt? In Deutschland breitet sich die Armut aus und eine wohlhabende Minderheit, die allein imstande wäre, die Not zu lindern, verwendet ihr Vermögen, um ihren Wohlstand zu schützen. Das ist so absurd wie unanständig. Wie viele Millionen wurden allein für dieses Haus vertan? Ein Journalist hatte kürzlich errechnet, dass man davon die neun Krankenhäuser, die im Großraum Koblenz aus Geldmangel geschlossen worden waren, dauerhaft hätte weiterbetreiben können. In das Volk hat man nur solange investiert, wie man es brauchte, die Gewinne in die Höhe zu treiben. Heute, wo die Asiaten die Rolle der konsumierenden Emsen übernommen haben, sind die Menschen hierzulande nur noch ein Minus auf dem Kassenbon.

      Und die Politik, jene Institution, deren Ermächtigung und Auftrag es gewesen wäre, gegenzusteuern, im ungleichen Verteilungskampf den Ausgleich zu suchen, hatte sich der Wirtschaft angedient, hatte ihr Handlungsmonopol an private Akteure verhökert. Werte, die einst als Synonyme für die Leistungsfähigkeit des Landes galten, wurden dem kurzfristigen Profitstreben unterworfen. Der Staat war zu einem Instrument verkommen, dessen vornehmlicher Zweck es war, die Forderungen des Kapitals zu verkünden, zu rechtfertigen und in Gesetze zu gießen und dafür zu sorgen, dass der Pöbel dessen Glaspaläste nicht einäscherte. Und jene, die die Eidesformel hergebetet hatten, ihre Kraft dem Volk zu widmen und Schaden von ihm zu wenden, hatten sich vom Volk entkoppelt. Sie wähnten sich als Goldmacher und waren doch nur Zauberlehrlinge. Ihre Ansprachen vom Balkon handelten von Fabelwelten, sie waren nicht mehr fähig, die Wirklichkeit zu erfassen. Von alchimistischen Fantastereien besessen hatten sie einer tollwütigen Finanzclique die Hände gereicht. Der Dompteur hatte dem Tiger die Peitsche überlassen und sprang nun selber durch den Reifen. Es bedurfte keines Sarkasmus mehr, ihre Torheiten zu rezensieren, es war hinlänglich entlarvend, sie einfach aufzuzeigen. Und im gleichen Maße, wie sich die Regierung mit der ihr eigenen Janusköpfigkeit den Krösussen unterwarf, erhob sie die Chancenlosigkeit für das Volk zur Rechtsnorm. »Kein Raum mehr für Geschenke«, hieß das in politischem Schönsprech. Statt seiner Verantwortung nachzukommen, lieferte der Staat politisches Illusionstheater, statt Chancen billiges Info- und Entertainment als Stimmungsaufheller.

      Brandt, dem Recht und Gesetz stets höchste Güter waren, dem Kollegen eine ureigene Seelenverwandtschaft mit Justitia nachsagten, begann zu zweifeln. Anders als bei Robin Hood, den er einst als einen kriminellen Psychopaten demaskierte, empfand er für diesen Täter eine eigenartige Bewunderung. Zum ersten Mal fragte er sich, ob er denn noch der Gerechtigkeit diente und ob ebendiese nicht längst zu einer nachrangigen Dimension des Rechts verkümmert war.

      Hatte dieses Recht überhaupt noch einen Wert? Wie oft in der Vergangenheit wurde es gebeugt, wie oft vergewaltigt? War es nicht in großen Teilen eine Ansammlung von willkürlichen Bestimmungen, dazu angetan, den Status Quo zu wahren? Im Namen dieses Rechts sollte er nun einen, der den wahrscheinlich größten Frevler der Menschheitsgeschichte bestraft hatte, aufspüren und einer Gerichtsbarkeit zuführen, deren Urteil längst feststand.

      Er musste an seine Frau denken und an seine kleine Tochter, die einen so überflüssigen Tod gestorben waren. Wie hatte er diese beiden zarten Geschöpfe geliebt. Es war ein Traum, der in einem grausamen Erwachen endete. Avaran hatte sie auf dem Gewissen, hatte seinen Garten Eden zertreten und ihn damit beinahe aus der Bahn geworfen. Würde er nicht einen Märtyrer schaffen, brächte er den Henker dieses Misanthropen hinter Gitter? Konnte er das mit seinem Gewissen vereinbaren?

      Brandt erschrak über sich selber. Das war unsachlich. Das Recht, dem ich die Treue schwor, versuchte er sich wieder einzunorden, steht geschrieben. Gerechtigkeit dagegen beruht auf Wohlwollen, ist Ansichtssache und somit abstrakt. Ich muss objektiv bleiben.

      Für heute beschloss er, es mit den Grübeleien gut sein zu lassen.

      »Jasper, wie denken Sie über den Fall?«, fragte Brandt seinen neuen Assistenten auf der Rückfahrt.

      »Ich bin mir nicht sicher.«

      »Was Sie denken oder was Sie mir sagen wollen?«

      Neideck zögerte. »Ich bin mir nicht sicher, wie offen ich mit Ihnen sprechen kann.«

      »Da können Sie sich bei niemandem sicher sein. Was sagt Ihnen denn Ihre Menschenkenntnis über mich?«

      »Ich weiß, dass Sie eine Berühmtheit in Polizeikreisen sind.«

      Der Kommissar schmunzelte. »Nur Gerüchte. Es wird viel geredet. Aber danach hatte ich nicht gefragt.«

      Neideck zögerte erneut. »Gefühlsmäßig«, begann er dann vorsichtig, »würde ich sagen, dass Sie vertrauliche Gespräche auch vertraulich behandeln.«

      »Nun, dann steht einem vertraulichen Gespräch ja nichts im Wege«, lächelte Brandt. »Also, was denken Sie?«

      Der junge Mann ließ sich Zeit mit seiner Antwort. »Wissen Sie«, antwortete er nach einer Weile, »Marie Antoinette glaubte einst von sich, die wichtigste Frau in Frankreich zu sein, wahrscheinlich, weil sie das meiste Geld ausgab. Die vielen Jahre ihres ungehinderten Treibens bestätigten sie wohl in dieser Überzeugung. Aber eines Tages hat es dann Rums gemacht und ihr Kopf lag im Korb.«

      »Was meinen Sie damit?«

      »Das Volk ist gemeinhin treu und träge. Aber es will atmen können. Damals