Galisia. Gerald Förster. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerald Förster
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783741899249
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Am neunten Tag nach der Infizierung war der letzte von ihnen gestorben. Panisch versuchte man noch, das Medikament zu verändern, aber es blieb keine Zeit mehr. Trotz sofortiger Isolierung fand der Virus seinen Weg nach draußen.

      Den Rest kennen Sie. In wenigen Monaten verbreitete sich die Grippe, hauptsächlich unter jungen, gesunden Menschen rund um den Globus. Es benötigte ein weiteres Dreivierteljahr Entwicklungsarbeit, bis das Mittel den mutierten Virus wirksam bekämpfte und in ausreichender Menge produziert war. Inzwischen sollten weltweit fast zweihundertfünfzig Millionen Menschen sterben, dreißig Millionen allein in Deutschland.« Schmidt blickte auf. Seine Miene schien versteinert. »Man kann Avaran Geldgier unterstellen. Aber ich sage ganz klar: Es war ein Unfall.«

      Was Schmidts Bekenntnis folgte, war betretenes Schweigen und erneut fragende Blicke. Nur Ulfkötter war hellwach. »Damit bestätigen Sie, dass Avaran eine Viertelmilliarde Menschen auf dem Gewissen hat. Mindestens fünfmal so viele Todesopfer, wie die Spanische Grippe seinerzeit forderte.«

      Schmidt zeigte keine Regung. »Mehr habe ich nicht zu sagen.«

      Der Journalist schüttelte unzufrieden den Kopf. »Nette Geschichte, Herr Schmidt. Aber ich habe damals etwas anderes herausgefunden. Nämlich dass der Virus nicht vorrangig mit der Absicht, dem Mammonismus zu frönen, freigesetzt wurde, sondern dass politisches Kalkül dahinter steckte. Eutamidin sollte nicht für alle Teile der Bevölkerung zugänglich sein. So wollte man auf die große Anzahl der von Armut Betroffenen und somit potentieller Unruhestifter regulierend einwirken. In der Tat waren nicht die Jungen und Kräftigen das Ziel, sondern die Notleidenden.«

      Schmidt blieb ungerührt. »Ich kenne diese Behauptungen, aber mal ehrlich, diesen Unsinn glauben Sie doch selber nicht.«

      »Sie wollen nicht wissen, was ich alles glaube«, entgegnete der Journalist noch, dann wurde es still. Sein Einwand hätte noch einmal Fragen aufwerfen müssen, im Eindruck von Schmidts unerwarteter Offenbarung aber blieb er unerwidert. Die Eigenmächtigkeit des Agenten, und das es sich um eine solche handelte, hatte er praktisch zugegeben, musste gute Gründe haben. Was verbindet ihn mit Avaran, fragte sich Brandt.

      Von Stauffen erhob sich von seinem Platz. »Es wartet eine Menge Arbeit auf uns. Wenn es ansonsten nichts Wichtiges gibt, würde ich die Runde für heute auflösen.«

      Uhland hatte noch einen offenen Punkt. »Avaran wurde auf Höhe des Sternums ein Buchstabe beigebracht. Genau gesagt, ein A. Allerdings ist mir unklar, womit. Es sieht aus, wie eine verunglückte Laserung.«

      »Ein A?«, fragte von Stauffen. »Was kann das bedeuten?«

      »Wer weiß? Avaran?«

      »Welchen Sinn sollte es haben, dem Opfer seine Initiale einzubrennen?«, rätselte Kallenbach. »Womöglich ist er ein Jäger, der seine Beutestücke nummeriert. Der nächste hat dann ein B auf der Brust.«

      »B wie Brandt?«, witzelte Uhland, wofür er sich umgehend einen strafenden Blick einfing. »Pardon! Scherz.«

      »Der Täter hat sein Opfer signiert«, meldete sich Voss noch einmal zu Wort. »Vielleicht nennt er sich selber A.« Dann neigte sie den Kopf leicht zu Seite. »Wie ich es vorhin gesagt habe: Es ist eine Metapher. Die Giftmixtur stellt den Bezug zu EuroPharm her. Zugleich trägt sie eine Botschaft in sich. Der Virus soll auf Avarans Schuld hinweisen, genau wie das wirkungslose Grippemittel, das man neben ihm fand.«

      Brandt schaute zu ihr herüber. »Aber warum erst jetzt, nach so langer Zeit?«

      »Schwer zu sagen. Es spricht aber eher dafür, dass es dem Täter nicht um persönliche Motive ging.«

      »Sondern?«

      »Vielleicht hat er es stellvertretend für alle getan, die Angehörige zu betrauen hatten«.

      »Ich weiß nicht, das klingt mir doch ziemlich diffus.«

      »Ein verspäteter Michael Kohlhaas?«, fragte Kallenbach skeptisch.

      »Ich hätte auch noch den Fliegenden Holländer anzubieten«, ergänzte Uhland spöttelnd, »oder den kopflosen Reiter.«

      Ratlose Augenpaare blickten sich an.

      Brandt stand auf. »Ich fasse mal zusammen: Dieser Kerl ist der erste Mensch, der nicht von den Fahndern erkannt wird. Er versteht etwas von Chemie oder Virologie, wahrscheinlich auch von Elektronik und Satellitentechnik. Damit nicht genug scheint er auch feinstoffliche Praktiken zu beherrschen, denn er kann sich unsichtbar machen oder durch Wände gehen. Oder beides. Er lässt sein Opfer einen metaphorisch aufgeladenen Tod sterben und signiert es mit einem Buchstaben, auf dessen Bedeutung wir uns keinen Reim machen können.« Der Kommissar sah in die Runde. »Habe ich etwas vergessen?«

      Für Neideck war dieser Fall sein erster Gehversuch in praktischer Polizeiarbeit. Umso erfreuter war er, dass er für die Dauer der Ermittlungen vom Erkennungsdienst abgezogen und seinem neuen Förderer als Assistent zugeteilt worden war. Einen besseren Lehrmeister als diesen erfahrenen Polizisten konnte er sich nicht vorstellen. Zuerst sollte er die Aussagen des Wachpersonals protokollieren. Ein Routinejob, der getan werden muss, dachte er. Nicht spannend, aber notwendig.

      Brandt steuerte den Dienstwagen zum Schloss hinauf. Er hatte nur einige Stunden auf der schmalen Liege in seinem Büro geschlafen und den Rest der Nacht über den Berichten der Spurensicherung und der Rechtsmedizin gebrütet. Jetzt wollte er sich den Schauplatz des Geschehens noch einmal in aller Ruhe anschauen. Vielleicht hatte er ja etwas übersehen.

      »Wie alt sind Sie, Jasper?«

      »Achtundzwanzig.«

      »Und was hat Sie zur Polizei verschlagen?«

      »Ein Kindheitstraum«, antwortete Neideck. »Wohl entstanden aus einem Kindheitstrauma. Ich war vierzehn, als meine Eltern ums Leben kamen. Die Polizei hat mir damals eine Geschichte von einem Unfall erzählt.«

      »Das klingt, als würden Sie etwas anderes glauben.«

      »Ich durfte sie nicht mehr sehen. Später habe ich erfahren, dass alles eine Lüge war. Von meinem Vater weiß ich nicht einmal, wo er begraben liegt. Vaters Schwester hat mich danach bei sich aufgenommen. Ein Täter wurde nie gefasst. In meiner Fantasie aber hatte er ein Gesicht. Lange Zeit habe ich davon geträumt, dass ich es bin, der ihm eines Tages die Handschellen anlegt.«

      Brandt, der angesichts eigener Erfahrungen sehr gut nachvollziehen konnte, was in dem Jungen vorgegangen sein muss, sah ihn mitfühlend an. »Tut mir leid, das muss schlimm für Sie gewesen sein.«

      »Am Anfang war ich völlig verstört. Ich habe mich versteckt, wollte niemanden mehr sehen. Tante Lauretta war immer für mich da, aber sie konnte mir nicht die Liebe geben, wie ich sie von meinen Eltern bekommen hatte. Ihr gehört ein Hotel, und die Arbeit ließ ihr nur wenig Zeit für mich. Ich glaube aber auch, dass ich sie nie nah genug an mich herangelassen habe. Ich wollte allein sein und mich in meiner Trauer weiden. Sehr viel später erst merkte ich, wie mein Selbstmitleid mich immer tiefer herabzog und dass ich mein Eremitendasein aufgeben und ins Leben zurückkehren musste. Ich ging nach Heidelberg um Soziologie zu studieren. Aber nur trockene Theorie war mir auf Dauer zu wenig. Nach dem Studium beschloss ich, meinen Traum aus früheren Tagen zu verwirklichen und Polizist zu werden. Beim Koblenzer Erkennungsdienst erhielt ich eine großartige Chance. Ich absolvierte eine kriminaltechnische Ausbildung. Und jetzt bin ich hier und hoffe, das echte Leben kennen zu lernen.«

      »Ich bin sehr froh, dass Sie nach diesen Erlebnissen Ihren Optimismus wiedergefunden haben«, sagte Brandt, nicht ungerührt. »Das echte Leben werden Sie hier kennen lernen, soviel kann ich versprechen. Ich wünsche Ihnen einen guten Start bei uns. Und vielleicht finden Sie bei Ihrer Arbeit Gelegenheit, alte Wunden zu heilen.«

      »Das werde ich«, strahlte Neideck. Dabei erinnerte er sich an das Hochgefühl, an diese Jetzt-geht’s-los-Euphorie, die ihn damals überkam, als er beschlossen hatte, aus seinem Trauerrefugium heraus und wieder ins Leben zu treten.

      Sie parkten auf dem Plateau vor dem Schloss. »Was haben sie heute gelernt, Jasper?«, fragte Brandt, bevor er die Wagentür öffnete.

      Der überlegte.