Zwischen Heinrich und Jeanniene. Wilhelm Kastberger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wilhelm Kastberger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742775528
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ließ den Mann stehen, wo er gerade wie festgenagelt stand und lief so gut es eben ging über die zwei oder drei Treppen hinauf in den ersten Stock. Boryana blieb für einen Moment stehen, atmete tief ein und aus, klopfte an die fast zwei Meter zwanzig hohe Tür, hinter der sich eine ehemals gut eingerichtete Bibliothek befand. Leider gab es zu dieser Zeit gerade noch zwölf etwas unhandliche Geschichtsbücher, die allesamt ungelesen und teilweise verstaubt in den schier leeren Regalen standen.

      Boryana wusste, wo sich die gnädige Frau am frühen Morgen bis zum Eintreffen ihres Gemahles aufzuhalten pflegt. Mit Grausen dachte die Köchin daran, wie man sich beispielsweise mit solchen, für sie unvorstellbaren Literaturschinken erholen kann. Aber warum sollte sich die Gnädigste erholen? Dass schien eine der zentralen Standartfragen in den letzten Wochen bei der Köchin geworden zu sein.

      Boryana konnte solche Bücher nicht lesen. Zumindest nicht solche in Schweinsleder gebundenen kiloschweren Exemplare. Angeblich waren deren Inhalte auf die mittelalterliche Periode, wo das Fürstengeschlecht rücksichtslos die Regentschaft nachkam, ausgerichtet. Dieses Thema hatte bei ihr ohnehin eine denkbar schlechte Meinung hinterlassen. Da waren ihr schon Liebesgeschichten und Heiratsgedichte wesentlich angenehmer. Ihre gesamte Bibliothek in ihrer Kammer umfasste zwei derartige Büchlein, die sie zwar schon fast auswendig konnte, aber darin immer wieder nachlesen musste.

      So stand halt Boryana vor der Tür zur Bibliothek. Sie klopfte an, machte die Tür einen Spaltbreit auf und sagte:

      „Guten Morgen.“

      Dann kollerten ihr Tränen über die Wange und wollte über die Treppe wieder in ihr Küchenreich abzischen. Doch die gnädige Frau war schneller. Sie holte ihre Köchin noch auf der ersten Stufe ein, ergriff ihren rechten Ärmel, sah ihr in die tränenden Augen und fragte sie, was den plötzlich mit ihr los sei.

      Boryana wiederholte weinerlich die Meldung, die sie gerade von dem noch im Flur stehenden Arbeiter bekommen hatte.

      Dano Georgiev Aleksandov wurde zwei Stunden später von seinen Stallarbeitern unter einem Baum mit einem Genickbruch aufgefunden. Drei Tage danach fand die Beisetzung am gutseigenen kleinen Friedhof statt. Immerhin war das eine der kürzesten Ehegemeinschaften, die je auf diesen Gutshof stattgefunden hatte.

      Die Zeit der Trauer ging schneller vorbei, als die Witwe je denken konnte. Sie war in diesem Jahr mit Arbeit völlig zugedeckt und auch manches Mal leicht überfordert. Sie musste hart kämpfen und war vorwiegend mit der Beseitigung von Müll sowie gleichzeitig mit den angedachten Projekten, die sie mit ihrem verunglückten Mann schon eingehend besprochen hatte, beschäftigt. Unter dem Begriff Müll sollte man nicht Mist oder Ähnliches verstehen, besser man würde es mit Ballastabwerfen umschreiben.

      Und da gab es doch jede Menge davon.

      Im Jahre neunzehnhundertsechsundneunzig wurde nämlich von seitens der Witwe mit viel Energie und einem kaum beschreibbaren Ehrgeiz begonnen, eine wunderschöne Blütengartenlandschaft zu errichten, von der ja bereits schon die Rede gewesen war. Der völlig herabgewirtschaftete, brachliegende Wiesenboden sollte wieder zu neuem Leben erweckt werden. Die Idee der Gutsherrin begann eigentlich mit einem Zaubermärchen.

      So unwahrscheinlich das auch klingen mag.

      Dieses Zaubermärchen beginnt zwar nicht mit – Es war einmal – oder anderen den Brüdern Grimm angelehnten Einführungen, sondern mit beinharten durchgezogenen Regieanweisungen, mit massiven Erdbewegungen durch Maschinen und Menschen. Das Gesamtkonzept sollte letztendlich den Geist der bühnenerfahrenen Gutsbesitzerin widerspiegeln.

      Sie hatte selbstverständlich im In- und Ausland genügend Freude an der Strippe. Unter anderem auch ein Ehepaar aus dem südlichsten Teil von Bulgarien. Die beiden waren anerkannte Landschafts- und Gartenarchitekten. Diese Drei gemeinsam gestalteten nun auf der etwas mehr als fünf Hektar großen Wiese dieses mehr als ansehnliche Kunstwerk eines in Zukunft zu nennenden Blütengartenmeeres.

      Um das Zaubermärchen für die Besucher des Blütengartenmeeres noch ein wenig realistischer erscheinen zu lassen, ließ man auch die Sicht auf das Schloss in die Architektur der neugeschaffenen, nicht mehr total flachen, sondern künstlich stückweit hügeligen Landschaft miteinfließen. Deutlich noch ein Stück weiter abgerückt von der nicht linear gezeichneten Armutsgrenze vom Dorf Selinkovac, sieht man rund zweihundert Meter vom besuchbaren Blütengartenmeer-Areal entfernt, in einer leichten natürlichen Senke, teilweise Umrisse von dem grauen schlossartigen Gebäude hervortreten. Rund um dieses Bauwerk stehen seit Menschengedenken riesengroße Laubbäume sowie eine schon brüchig gewordene, jedoch immer noch der Qualität entsprechend, mannshohe Festungsmauer. Die Bäume und die Mauer verdecken zum Teil die Sicht auf das Haus.

      In Wahrheit ist es ja kein richtiges Schloss. Es wird nur landläufig bei den Dorfbewohnern so genannt. Zu früheren Zeiten war es ein typisches Herrenhaus, besser noch ein Gutshaus, weil es neben der Landwirtschaft auch noch Stallungen für eine ansehnliche Pferdezucht gegeben hatte.

      Neunzehnhundertsechsundneunzig wurden von der jetzigen Gutsherrin sämtliche Pferde, bis auf zwei ihrer Lieblingsstuten, verkauft. Sie konzentrierte sich ab nun auf die Kerngeschäfte, um die Lebensfähigkeit des Gutshofes mit seiner umgebenden Atmosphäre zu erhalten.

      Dazu gehörte das Blütengartenmeer, das nach dreijähriger Vorlaufzeit, also ungefähr ab dem Jahr zweitausend, jede Menge an Besuchern aus dem Inn- und Ausland herbeilocken sollte. Viel lieber waren der Frau selbstverständlich die ausländischen Besucher, weil die zugegebenermaßen mehr Pulver in ihren Taschen mitführten. Und auf das kam es ja schlussendlich bei ihr an. Sie war süchtig nach Geld, geradezu manisch verrückt danach.

      Das gehört jetzt, in diesem Augenblick, wirklich in die Vergangenheit des letzten Jahrhunderts eingereiht. Man durfte, vor allem in Anwesenheit gewisser Personen, gar nicht mehr offiziell über Geld sprechen, außer bei dem Geplapper in der Spelunke, wo noch heute hinter vorgehaltener Hand darüber gemunkelt wird.

      Im Blütengartenmeer wurden auch Irrwege angelegt, die so ähnlich wie Labyrinthe gestaltet worden sind. Wenn man mal hineingeraten ist, wird man nur vielleicht eine Spur mehr an Selbstvertrauen benötigen, um wieder den Verstrickungen entfliehen zu können. Am besten man schreitet vorwärts geradeaus. Klüger wäre es aber manches Mal nach rückwärtszugehen. Das könnte wiederum womöglich mit erheblicher Mühe verbunden sein.

      Vermutlich gibt es auch andere, nämlich die oberirdischen Verbindungswege zwischen dem Blütengartenmeer, wie die Anlage offiziell auf der Internetwebseite www.bluetengartenmeer.com oder www.flowersgardensea.com beworben wird, und dem Schloss. Es muss sie ja geben, nur wurden diese Wege für die Besucher keineswegs freizugänglich gemacht. Man hatte den Eindruck, irgendwie scheint das alles noch aus der Dornröschenzeit zu sein.

      Also doch ein wenig vom Zaubermärchen!

      Vor allem bei den unterirdischen Gängen und Stollen, die gewiss nicht alle erhalten geblieben sind, da dürfte das Mystische aus der Sagen- und Märchenwelt noch tiefer im Verborgenen ruhen. Aber ein oder zwei solche unterirdischen Verbindungen wurden wieder instandgesetzt und begehbar gemacht. Man kann diese Stollen mit Fackeln oder Taschenlampen, ohne auf Überraschungen, wie zum Beispiel auf weißverschleierte Schlossgeister, stoßen zu müssen, durchgehen. An eine Elektrifizierung im Stollen wurde auch gedacht. Das heißt, das zweihundertfünfundvierzig Meter lange Stollensystem wird in absehbarer Zeit mit Stegleitungen und in regelmäßigen Abständen mit einfachen Glühbirnen, die aus den Restbeständen der Baumärkte stammen dürften, bestückt werden.

      Wie man sogar in Selinkovac und selbstverständlich auch im Schloss weiß, hatte jüngst eine neue EU-Verordnung die Beleuchtungswirtschaft aus dem Gleichgewicht geworfen und dabei die gute alte Glühbirne der Verdammnis zugeführt. Das kam für die dunklen Mächte der Finsternis wie gerufen.

      Die nicht immer friedlichen Dorfbewohner bekamen den Umbruch, der im Schloss stattgefunden hatte, leibhaftig mit. Es gab einige Land- und Stallarbeiter, für die es keine Verwendung mehr gab. Diese Leute waren nicht bereit, einfache Gartenarbeiten zu machen. So standen sie halt eines Tages ohne Arbeit da. Andere wiederum, die so flexibel gewesen waren, sich von der Mistgabel auf die Gartenschaufel umschulen zu lassen, für diese