Mr, Moore jagte auf das Fenster zu, aber seine Anstrengung war unnötig, denn der Junge trat, als er sich entdeckt sah, in das Zimmer zurück, als habe er seine Pläne aufgegeben.
»Wohin wolltest du?«, keuchte der aufgeregte Mr. Moore.
»Zur Musikhalle, um Ajax zu sehen«, erwiderte der Junge ruhig.
»Ich bin erstaunt!«, rief Mr. Moore. Sekunden später war er wesentlich erstaunter, denn der Junge eilte schnell auf ihn zu, packte ihn bei den Hüften, hob ihn empor, warf ihn mit dem Gesicht nach unten aufs Bett und drückte seinen Kopf in die Kissen.
»Seien Sie ruhig, oder ich ersticke Sie«, mahnte der Sieger.
Mr. Moore versuchte sich zu befreien, aber seine Mühe war vergebens. Jack kniete auf seinem Rücken und riss das Laken in Streifen, mit denen er seinen Lehrer fesselte und knebelte. Dabei sprach er mit gedämpfter Stimme auf den Unterlegenen ein:
»Ich bin Waja, Häuptling der Waji«, erklärte er. »Und Sie sind Mohammed Dubn, der arabische Scheich, der meine Stammesangehörigen ermorden und unser Elfenbein stehlen wollte. Nun sind Sie in meiner Gewalt. Ich gehe nun, aber ich komme wieder!« Nach diesen Worten glitt der Sohn Tarzans durch den Raum, schlüpfte durch das offene Fenster und ließ sich an der Dachrinne zur Erde hinab.
Erst eine Stunde später wurde der bedauernswerte Mr. Moore durch einen Diener entdeckt und aus seiner peinlichen Lage befreit.
Inzwischen erfreute sich Jack der so leicht errungenen Freiheit. Er hatte die Musikhalle gerade in dem Augenblick erreicht, als Ajax' Auftritt begann. Aus einer Seitenloge vom an der Bühne beobachtete er mit aufgerissenen Augen die Künste des gelehrigen Affen. Dem Dresseur entging der gutaussehende Junge in der Loge nicht, und da der Höhepunkt von Ajax' Auftritt darin bestand, sich zu den Besuchern einer Loge zu gesellen, um - wie der Dresseur grinsend erklärte - nach einem lange verschollenen Verwandten zu suchen, beschloss er, an diesem Abend den Affen zu dem Jungen zu schicken.
Als Ajax dann zum letzten Mal an die Rampe trat, um den wohlverdienten Beifall für seine Vorführungen entgegenzunehmen, lenkte der Dresseur die Aufmerksamkeit des Tieres auf den Jungen, und der Affe schnellte sich mit einem geschmeidigen Satz in die Loge. Wenn der Dresseur geglaubt hatte, dass Furcht und Entsetzen den Jungen packen und einen neuen Beifallssturm des Publikums Hervorrufen würden, so sah er sich nun in seinen Erwartungen getäuscht.
Ein strahlendes Lächeln erhellte das Gesicht des Jungen, der seine Hand auf den haarigen Arm des Besuchers legte. Der Affe ergriff den jugendlichen Logenbesucher bei den Schultern und blickte lange und versonnen in dessen Gesicht, während Jack den mächtigen Schädel streichelte und leise auf das Tier einsprach.
Nie hatte Ajax sich so lange mit einer Musterung aufgehalten wie diesmal. Von allen Seiten betrachtete er den Jungen, schmiegte sich zärtlich an ihn und ließ sich schließlich, aufgeregt vor sich hin brummend, neben ihm nieder. Das Publikum war begeistert, und die Begeisterung wuchs noch, als der Dresseur sich vergeblich bemühte, das Tier zum Verlassen der Loge zu bewegen. Der Affe dachte nicht daran, der Aufforderung zu folgen. Der Manager, der schon die nächste Nummer angesagt hatte, drängte den Dresseur, die Vorstellung zu beenden, aber als dieser die Loge betrat, um Ajax hinauszuzerren, sah er sich entblößten Fängen und einem drohenden Knurren gegenüber. Dem verzweifelten Manager, der dem Dresseur zu Hilfe geeilt war, wurde der gleiche Empfang zuteil. Der Dresseur raufte sich die Haare, weil er fürchtete, dieses Zeichen von Aufsässigkeit könnte Ajax für weitere Vorführungen wertlos machen. Er lief hinter die Bühne und bewaffnete sich, um seinem Befehl Nachdruck zu verleihen, mit einer schweren Peitsche. Als er jedoch in die Loge zurückkehrte und Ajax drohend die Peitsche zeigte, sah er sich gleich zwei wütenden Feinden gegenüber, denn der Junge war aufgesprungen, hatte einen Stuhl gepackt und stand neben dem Affen, um seinen neugewonnenen Freund zu verteidigen. Das Lächeln auf seinem gut geschnittenen Gesicht war erloschen. In seinen grauen Augen stand ein Ausdruck, der den Dresseur veranlasste, die Peitsche sinken zu lassen. Niemand vermag zu sagen, was geschehen wäre, wenn der Dresseur nicht unerwartet Hilfe von dritter Seite erhalten hätte.
Zitternd und zerknirscht war Mr. Moore in die Bibliothek des Hauses gestürzt, um Lord und Lady Greystoke von dem Überfall und dem Verschwinden Jacks zu berichten. John Clayton wurde bleich, als er die Nachricht vernahm. Die Erinnerung an Rokoff stieg in ihm auf, er fürchtete, sein Sohn könnte zum zweiten Mal entführt worden sein.
»Ich sehe mich gezwungen, Sir, meine Stellung als Lehrer Ihres Sohnes sofort aufzugeben«, sagte Mr. Moore, der wieder zu Atem gekommen war. »Was Ihr Sohn braucht, ist kein Lehrer, sondern ein Raubtierbändiger.«
»Aber wo ist Jack?«, rief Lady Greystoke aufgeregt.
»Er ist verschwunden, um Ajax zu sehen.«
Es bereitete Tarzan Mühe, ein Lächeln zu unterdrücken. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass bei Mr. Moore der Schrecken größer war als der körperliche Schaden, den er davongetragen hatte, befahl er, den Wagen vorzufahren und jagte kurz darauf zur Musikhalle.
Drittes Kapitel
Während der Dresseur noch überlegte, ob er nicht doch von der Peitsche Gebrauch machen sollte, schob ihn ein großer breitschultriger Mann zur Seite und betrat die Loge. Leichte Röte überzog das Gesicht des Jungen, als sein Blick auf den Neuankömmling fiel, »Vater!«, rief er aus.
Der Affe musterte den englischen Lord kurz, dann sprang er, aufgeregt murmelnd, auf ihn zu. Tarzans Augen weiteten sich, er stand wie erstarrt da.
»Akut!« stieß er hervor.
Verwirrt schaute der Junge seinen Vater an, dann ging sein Blick zu Ajax zurück. Bei der nun folgenden Szene klappte das Kinn des Dresseurs herab, denn von den Lippen des Engländers kam ein Strom unverständlicher Worte, der von dem Affen, der sich eng an den Mann schmiegte, auf die gleiche Weise erwidert wurde.
Aus den Kulissen beobachtete ein hagerer, verkrümmter alter Mann die phantastische Szenerie in der Loge. Eine Flut Empfindungen, die von höchster Überraschung bis zu tiefstem Entsetzen reichten, bewegte sein pockennarbiges Gesicht.
»Lange habe ich dich gesucht, Tarzan«, sprach Akut. »Nun werde ich in deinen Dschungel kommen, um mit dir zu leben.«
Der Mann strich zärtlich über den Schädel des Tieres. Blitzschnell ließ die Erinnerung Bilder an ihm vorüberziehen, die ihn in den wilden afrikanischen Dschungel versetzten, wo der große Menschenaffe Schulter an Schulter mit ihm gekämpft hatte. Er sah den schwarzen Mugambi seine Keule schwingen, neben ihm kauerte mit entblößten Fängen und zitterndem Schnauzbart Sheeta, der schreckliche Panther, und hinter beiden drängten sich Akuts Affen. Der Mann seufzte. Der Ruf des Dschungels, den er längst verstummt glaubte, wurde in ihm wieder laut. Er wünschte, nur für einen kurzen Monat zurückkehren zu können, noch einmal das Streifen der Lianen an seinen nackten Lenden spüren, den Geruch modernder Vegetation atmen, jagen und gejagt werden, den Kampf mit den Raubtieren der Wildnis aufnehmen. Es war so verlockend, was die Phantasie ihm vorgaukelte, aber es wurde abgelöst durch eine andere Bilderfolge - eine junge schöne Frau mit vertrauten Zügen, Freunde, Besitz, ein Sohn. Er hob die breiten Schultern und ließ sie wieder sinken.
»Es kann nicht sein, Akut«, sagte er. »Aber wenn du zurückkehren willst, werde ich dafür sorgen, dass es geschieht. Du würdest hier nicht glücklich sein, und ich könnte dort das volle Glück nicht mehr finden.«
Der Dresseur trat einen Schritt auf Akut zu. Der Affe knurrte drohend und entblößte die Fänge.
»Geh mit ihm, Akut«, sagte Tarzan. »Morgen siehst du mich wieder.«