Sie schilderte diese Aktion folgendermaßen: „Da ergriff ich eines Abends die Initiative – begab mich in die etwas obskure Kneipe …, fragte den erstaunt blickenden Wirt, wo hier eine Sitzung stattfände, bekam die Tür gezeigt, die ich beherzt öffnete … In dichtem Tabaksqualm sah ich dort eine Runde Männer sitzen, die alle sofort bei meinem Erscheinen verstummten und mich fassungslos anstarrten. Karl sprang erschrocken auf …“
An diesem Abend wurde Marianne für die Idee des Sozialismus gewonnen. Sie durfte der Diskussion beiwohnen und anschließend wies man sie darauf hin, dass eine Mitgliedschaft in der SPD und der Besuch der Veranstaltungen der SWV Voraussetzung für eine Mitwirkung in dem engeren Kreis sei, der jetzt Rote Kämpfer heiße.
„Ich wurde sozusagen Mitglied, trat in die SPD ein, machte alle Veranstaltungen der Sozialwissenschaftlichen Vereinigung mit, wo Karl Schröder Vorlesungen über Geschichte und Literatur hielt…“ Im Juni 1931 begann der gemeinsame politische Weg von Karl und Marianne.
Das vorgeschlagene Treffen der drei jungen Leute fand wenige Tage nach diesem Einbruch in die Männerwelt der Roten Kämpfer statt, aber es verlief komplett anders, als Karl sich das vorgestellt hatte. Es war ein herrlicher Sommertag und die Havel dehnte sich vor dem Plätzchen, an dem sie im Schatten der Bäume lagerten, so breit aus, als wolle sie sich auf den Wannsee vorbereiten und schon einmal so tun, als sei sie ein See.
Diesen idyllischen Ort im Grunewald hatte Peter Utzelmann gefunden und sofort erkannt, dass er ideal geeignet war für illegale Treffen der Gruppe, die man leicht als Wanderausflug kaschieren könnte. Seither hatten sich die Berliner Roten Kämpfer schon einige Male hier getroffen und manchmal sogar die Politik vergessen angesichts der herrlichen Natur.
Ein Hauch von Wandervogel und Zeltlager, verbunden mit Erinnerungen an die gemeinsame Frankfurter Zeit, hing in der Luft. Marianne hatte ihn zur Begrüßung in den Arm genommen und er war zum ersten Mal seit seiner Rückkehr nach Berlin vorbehaltlos glücklich.
Die entspannte und verzauberte Stimmung endete schlagartig, als Helmut Wagner am Treffpunkt auftauchte. Mit seinen 28 Jahren sah er immer noch jungenhaft, ja geradezu schelmisch aus. Er wirkte deutlich reifer als der fünf Jahre jüngere Karl. Er küsste Marianne übertrieben die Hand, die sie ihm gereicht hatte, und strahlte sie an. Eine Ähnlichkeit zwischen den beiden Männern war unverkennbar: dieselbe hohe Stirn und ein fast identischer geschwungener Ansatz der nach hinten gekämmten Haare. Was ihn aber deutlich von Karl unterschied, war das strahlende Lächeln, das nicht mehr verschwand, seit er Marianne gesehen hatte.
Noch mehr fiel Karl auf, dass seine Marianne seit der Ankunft von Helmut keinen Blick mehr für jemand anderen hatte. Es war offensichtlich, dass zwischen den beiden etwas passiert war, was ihm nicht recht sein konnte.
„Also, wie ist es nun, Helmut, kannst du meiner Freundin erklären, wofür die Roten Kämpfer stehen?“
Ungeschickter hätte er es nicht anfangen können.
„Ja, ja, das kommt noch. Lass uns erst einmal die herrliche Natur genießen. Mich erinnert der Platz hier an die Kuhle Wampe. Marianne, warst du schon einmal dort?“
„Nein, aber im Mai habe ich die Uraufführung des Films im Atrium gesehen.“
„Na, dann weißt du ja, dass da viele Arbeitslose leben und versuchen, über die Runden zu kommen. Das sind die Opfer des Großkapitals! Auch die brauchen wir für die Revolution. Willst du sie einmal mit mir besuchen?“
„Gerne, das ist bestimmt interessant.“
Ihr strahlender Gesichtsausdruck gefiel Karl nicht.
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