Drei Wochen später war nicht nur in Kiel der erste Panzerkreuzer des deutschen Reiches unter dem Namen „Deutschland“ vom Stapel gelaufen, sondern die Sozialwissenschaftliche Vereinigung in Berlin hatte den „Roten Kämpfer“ von den finanziell knappen Kölner Studenten in Eigenregie übernommen und arbeitete auf Hochtouren an der Entwicklung und Darlegung rätedemokratischer Ideen in diesem publizistischen Forum.
Wagner war nach dem Parteitag verbittert nach Dresden zurückgekehrt und begann, an einem theoretischen Konzept für die Überwindung der politischen Krise zu arbeiten. Sein Aktionsprogramm der ‚Gruppe revolutionärer Sozialisten‘ rief zur Gründung einer Partei auf, die den Klassenkampf zu führen bereit sei. Ähnlich wie Reichenbach und Schröder 1921 die Zukunft in einer revolutionären Partei, der KAPD, gesehen hatten, war er überzeugt, dass jetzt und sofort eine Organisation geschaffen werden müsse, die die Revolution in die Hand nehme.
„Der … Weg des Entstehens einer revolutionären Partei ist gekennzeichnet durch die Bildung von programmatisch klaren, zielbewussten Kernen und Kadern, die in organischem Wachstum alle Massenorganisationen der Arbeiterklasse durchsetzen und sich durch sichere Analyse, konkrete taktische Vorschläge und Solidarität in allen politischen Kämpfen allmählich das Vertrauen ihrer Klassengenossen schaffen und unermüdlich an der Klärung des Bewusstseins arbeiten.“
Am 29. September wurde Wagner wegen seiner zersetzenden Tätigkeit aus der SPD ausgeschlossen.
In Berlin schüttelte Schröder den Kopf über die Einschätzung des jungen Genossen. Er war nach den Erfahrungen mit der KAPD der Überzeugung, dass die Chance, die 1918/19 bestanden hatte, vertan worden war und dass es jetzt darum gehen müsse, die Nationalsozialisten abzuwehren und – wenn dies nicht gelinge – die zu erwartende faschistische Diktatur zu überleben. Die Revolution, sosehr er sie herbeisehnte, musste warten.
„Karlchen, lass dich nicht von diesem Revoluzzer blenden. Mit seiner Partei wird er ins Unglück rennen und uns mit hineinreißen!“
Schröder legte in der Septemberausgabe des „Roten Kämpfer“ ausführlich dar, dass eine revolutionäre Partei nicht am grünen Tisch entstehen könne, sondern Ergebnis einer organischen Entwicklung sein müsse. Der revolutionäre Schwung des Dresdner Genossen beeindruckte Karl allerdings sehr und er spürte etwas von dem unglaublichen Optimismus, den Helmut verbreitete.
„Mensch, Onkel, sollen wir tatenlos zusehen, wie die Nazis an die Macht kommen?“
„Wer soll es denn verhindern, wenn die Linke nicht zusammenhält? Das Kapital lässt den Hitler die Drecksarbeit machen, um aus der Krise zu kommen. Die haben nichts gegen die Nazis. Du wirst sehen, die Großindustrie stützt dieses Pack. Wir Sozialisten müssen an die Zeit danach denken.“
„Aber Bernhard hat doch gemeint, einen Versuch mit den Jungen in Dresden kann man machen.“
„Das stimmt schon und er wird es tun, aber ich sag‘ dir ganz ehrlich: Das geht nicht gut. Der Helmut will schon Morgen mit dem Kampf beginnen, aber seine Truppen bestehen nur aus ein paar Studenten und SAJ-lern. Mit denen kann man keinen Klassenkampf führen. Mit seinem Ordnerdienst kann er vielleicht die eine oder andere Schlägerei mit der SA überstehen, aber mehr auch nicht.“
„Wieso macht Bernhard dann mit? Ich denke, er sieht das genauso wie du.“
Diese Frage stellte sich in der Tat und sie kann nicht eindeutig beantwortet werden. Nachdem am 4. Oktober 1931 in Berlin die Sozialistische Arbeiterpartei (SAP) Deutschlands gegründet worden war, enthielten die Beiträge im Novemberheft des „Roten Kämpfer“ Hohn, Spott und scharfe Kritik über deren „Provisorisches Aktionsprogramm“, in dem gegen alle Glaubenssätze die Möglichkeit eines friedlichen Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus anklinge.
Das lag unter anderem daran, dass auch die Reichstagsabgeordneten um Max Seydewitz an der Gründung teilnahmen. Sie glaubten immer noch an einen parlamentarischen Weg. Das war eigentlich Verrat an rätedemokratischen Glaubenssätzen.
Reichenbach und eine kleine Gruppe der Berliner SWV und der Roten Kämpfer aus dem Rheinland und dem Ruhrgebiet schlossen sich trotz dieser Kritik als Fraktion der neuen Partei an. Einen Versuch könne man ja machen, und vielleicht bleibe man so in Kontakt mit den vielen unzufriedenen Jungsozialisten und Jungarbeitern der SAJ.
Die SAP beteiligte sich an den Landtagswahlen im April 1932 und an den Reichstagswahlen im Juli, die als „Schicksalsschlacht des deutschen Proletariats“ bezeichnet wurden. Sie erhielt 0,4 bzw. 0,2 % der Stimmen. Da Reichenbach und die nach ihm benannte Gruppe mit dem Slogan „Nicht Wahlkampf, sondern Klassenkampf“ zum Wahlboykott aufgerufen hatten, kamen sie dem drohenden Parteiausschluss durch Austritt zuvor. In ihrer Erklärung vom 1. August 1932 heißt es u.a.: „Die kurze Episode der SAP hat bewiesen … : Nur auf rätekommunistischer Fundierung, nur in Ablehnung aller Methoden der alten parlamentarischen Führerparteien … kann die Neuformierung der revolutionären Arbeiterschaft zu breiter Klassenhandlung der sich erhebenden Proletarier erfolgen.“
Diese Haltung war mitgeprägt worden von dem zusammen mit der SAP gegründeten Sozialistischen Jugendverband (SJV), in dem Wagner den Ton an- und die Inhalte vorgab, womit er sich bei Schröder zunehmend unbeliebt machte. Dessen Abneigung ging so weit, dass er, der reisende Redner und beliebte Referent, eine Anfrage für einen Vortrag vor den Mitgliedern des SJV in Dresden am 27. November 1931 ablehnte.
„Natürlich liegt die Zukunft in einer Räteregierung und die bekommen wir nicht kampflos, aber ohne die Massen der Arbeiter gewinnen wir keinen Blumentopf, Karlchen, lass dir das gesagt sein!“
Auch Schwab sprach von „Revoluzzertum“ und jugendlicher Überheblichkeit. Sie saßen im August 1931 kurz vor Beginn des nächsten Gruppentreffens im Hinterzimmer ihres Stammcafés am Halleschen Ufer.
„Dein Onkel hat Recht. Es ist zwar bitter, aber wir müssen erkennen, dass die revisionistische Politik der SPD den zweifelhaften Erfolg hat, dass die Proletarier trotz allen Elends nicht zum revolutionären Kampf bereit sind. Wir müssen für die Roten Kämpfer die Menschen gewinnen, die in der Zukunft einen Kern der Kampftruppen sein können. Ein echter Revolutionär braucht einen langen Atem!“
Natürlich stand Karl auf der Seite seines Onkels und der Berliner Roten Kämpfer und wollte das System überwinden, aber er war ein wenig erleichtert, dass der bewaffnete Kampf nicht unmittelbar bevorstand. Von den hierzu notwendigen Waffen hatte er weder bei der SWV noch bei den Roten Kämpfern etwas gehört.
Ein Wiedersehen
„Haben Sie schon die passende Kette zu Ihrem Kleid?“ war auf einem der kleineren Plakate an der Fassade des Juweliergeschäftes in der Friedrichstraße zu lesen. Karl stand auf dem Trottoir und staunte über die Menschenmenge, die sich vor dem Laden drängte. Er war aufgeregt. Marianne hatte sich tatsächlich an ihn gewandt und mit ihm ein zweites Treffen verabredet. Jetzt wollte er von seinem schmalen Gehalt ein Schmuckstück für sie erwerben.
Kurz nach Ostern war sie bei ihm in der Schule in Neukölln aufgetaucht. Glücklich und verlegen zugleich begrüßte er sie.
„Guten Tag, Marianne, das ist aber eine Überraschung.“
„Ich bin jetzt auch an einer Neuköllner Schule und da habe ich gedacht…“
Sie gab ihm die Hand und kam anschließend gleich zur Sache.
„Karl, du kennst dich doch in der Politik aus. Ich durchschaue das nicht mehr. Kannst du mir sagen, wie es weitergehen soll? Die Lage wird immer schlimmer und deine Linken streiten und diskutieren, als gäbe es nichts Wichtigeres als die Theorie.“
„Ach, Marianne, wenn das so einfach wäre mit der Einheitsfront.“
„Was