Er staubte seinen Anzug ab und schaute sich um. Vom Hügel aus konnte er im Dunkeln die Straße erahnen, die am südlichen Ende des Schlossparks entlanglief und am Westrand des Waldes nach Norden abknickte. Ab und zu sah er das Licht von Wagen aufleuchten und wieder erlöschen, wenn sie hinter einer Kurve oder in einem Gehölz verschwanden. Er stieg den Hügel hinab, ohne darauf zu achten, ob er noch einem Pfad folgte, und ging auf den roten Abendschimmer im Westen zu, das zwischen den hohen Buchenstämmen leuchtete. Ab und zu knackte ein Ast unter seinen Füßen, dann hielt er aufgeschreckt inne, um zu horchen, ob nicht doch jemand hinter ihm her war. Endlich wuchs eine schwarze Wand vor ihm auf, er hatte die Umfassungsmauer erreicht. Als er vor sie trat und an ihr entlangstrich, überkam ihn allmählich leises Unbehagen. Nirgendwo war eine Möglichkeit, auf die drei Meter hohe Mauerkrone zu gelangen. Er hatte damit gerechnet, auf einen Baum klettern zu können und sich dann von einem Ast auf sie hinunterzulassen. Aber die dicken Buchenstämme konnte er nicht umklammern, außerdem hinderte ihn der Koffer.
Er musste also bis zu dem verschlossenen Eisentor des Fahrwegs gehen, das schwer zu überwinden war, denn es war überall mit Lanzenspitzen bewehrt. Zum Glück hatte er feste Sohlen unter seinen Schuhen. Zwar spürte er, wie die Spitzen unangenehm am Fußballen drückten, aber er konnte sich, den Koffergriff zwischen den Zähnen haltend, allmählich am Rand des Tors zur Mauerkrone hinaufziehen. Erleichtert glitt er hinüber, schwang die Beine auf die andere Seite, ließ das Köfferchen ins Gebüsch unter sich fallen, hielt sich an den Eisenstäben des Tores fest und sprang hinab. Es war inzwischen stockdunkel geworden. Der Westwind hatte zugenommen und das Rauschen in den Wipfeln war so laut, das es selbst das Hinabplumpsen des Koffers zudeckte.
Er ging vorsichtig voran, denn er konnte nur wenig vor seinen Füßen erkennen. Der kurze Zugangsweg, der von der Straße auf das Westtor zuführte, war zugewachsen. Er schob die Zweige der Sträucher auseinander, um auf die Fahrbahn hinauszutreten......
.... ich habe doch, .... eben noch, .... am Morgen saß ich ....wer sagt mir denn?... was ist los? Wie eine Endlosschleife lief ein kurzer Film durch Julios wirres Gedächtnis, ohne dass er seinen Sinn erfassen konnte. Sein Kopf schmerzte und dröhnte. Er starrte durch eine schlierige Windschutzscheibe auf daherrollendes, regennasses, spiegelndes Pflaster, auf flirrende Reihen schwarzer Alleebäume, die sich im Lichtstrahl der Scheinwerfer vor ihm teilten, griff sich an den Kopf, fühlte eine große Beule und klebrige Nässe unter einem Stück Stoff. Dann nahm er eine dunkle Gestalt neben sich wahr, die er im Verdacht hatte, vor sich hin zu stöhnen. Erst als er nach peinvoller Erinnerungsarbeit realisiert hatte, dass es Danielle war, die neben ihm das Steuer lenkte, bemerkte er, dass das Stöhnen aus ihm selber kam.
„Wo fahren wir hin?“ fragte er und wunderte sich über die brüchige Stimme.
„Nach Montfort-l’Amaury, zur Ersten Hilfe. Man muss dich röntgen.“
„Was ist passiert?“
„Jemand wollte dir den Schädel einschlagen.“
„Warum? Weshalb?“
„Erinnerst du dich nicht?“
„Ja, da war was, ein Mann im Luxembourg-Park, ein Köfferchen, Geldbündel, der Kurs...“ Er hielt inne, sah sie von der Seite an, Wellen von Schmerz durchliefen den Schädel, dann wie ein kleines Fenster sich öffnet, die Wahrheit: „Du hast mich gerettet...!?“
„Ich kam gerade noch rechtzeitig, der Mann hatte dich niedergeschlagen, da bog ich um die Ecke, ich sah euch deutlich im Scheinwerferlicht, du lagst auf der Erde, er wollte dir den Koffer aus der Hand reißen, aber du hast ihn festgehalten, ich hupte, da sprang er auf, lief zu seinem Wagen, startete und verschwand.“
„Und ich hatte dir doch gesagt, folge mir nicht, es ist zu gefährlich.“
„Da siehst du, wie gut es ist, wenn man nicht gehorcht.“
„Aber wenn du, wenn er...“ Julio konnte noch nicht richtig nachdenken, verlor wieder den Faden.
„Du hast mir doch gesagt, du wolltest von Les Roques aus mit dem Bus fahren oder ein Taxi herbeitelefonieren. Aber ab acht geht kein Bus mehr, du besitzt kein Handy und es gibt da auch kein öffentliches Telefon. Die Kneipen sind heute geschlossen, kein Hotel und kein Gasthof sind auf in dieser Jahreszeit. Wo wolltest du dann hin?“
„Ich habe mir das nicht überlegt, ich wusste nur, ich muss so schnell wie möglich verschwinden.“
Julio legte ihr die Hand auf die Schulter und drückte sie dankbar. Sie langte mit der freien Hand hinüber und tätschelte seine.
"Du hast recht", meinte er, "das Beste ist, wir fahren nach Montfort, parken den Wagen in irgendeiner abgelegenen Gasse, lassen mich verarzten und nehmen den Zug nach Paris. Ich muss mein Hotelzimmer räumen. Hoffentlich sind sie noch nicht darauf gekommen, wo ich wohne. Denn wenn sie in meinen Sachen wühlen, fürchte ich..." Er hielt entsetzt inne.
"Was fürchtest du?"
"dass Sie herauskriegen, wo meine Familie wohnt und Cleo... Sie könnten sie zum Reden zwingen, drangsalieren, entführen, foltern, was weiß ich...?"
"Dann musst du sie warnen und zwar sofort." Sie griff neben sich in die Tasche an der Autotür und reichte ihm ihr Handy hinüber.
Er wehrte ab. "Ich weiß nicht, das geht mir alles zu schnell. Ich brauche Zeit zum Nachdenken."
„Gut,“ sagte sie und legte den dritten Gang ein, „du denkst nach, und ich fahre nach Montfort.“
Er sah sie erstaunt von der Seite an. Nie hätte er gedacht, dass in diesem zierlichen Körper ein so entschiedener Charakter steckte. Sie schaute geradeaus auf die vom Scheinwerfer beleuchtete Allee vor sich. Er bewunderte ihr schönes, vom schwachen Instrumentenlicht erhelltes Profil und sagte sich verzweifelt: Ich liebe sie. Aber ich liebe auch Cleo. Was soll das werden?
Kapitel 3
Auf der morgendlichen Redaktionskonferenz der Tages-Zeitung La Voix du Sud verteilte der Chefredakteur Marius Barre die Aufgaben, u. a. sollte sich einer der Mitarbeiter um die Jahrestagung der europäischen Finanzminister im Palais Réaumur kümmern, bei der der Präsident der Republik die Eröffnungsrede halten würde, ein anderer sollte über die Sicherheitsmaßnahmen für die Konferenz schreiben, die Reporterin Farnèse sollte den französischen Finanzminister interviewen, der Reporter Ménard über einen Prozess vor dem Schwurgericht berichten usw.
Da meldete sich Cellier. Er war Lokalreporter der Zeitung und zuständig für „Vermischtes“ und „Gesellschaft“. So schrieb er etwa über die Feste der Reichen und Schönen, die Filmschauspieler, die Eröffnung neuer Nachtclubs, das Programm von Varietés, die Jahrestagungen der Tauben-, Hunde- oder Pétanque-Vereine, das Jubiläum des provenzalischen Sparkassenverbands, die Renovierung der Stadthalle, die Einweihung des neuen Spielkasinos oder er versuchte, die täglichen Informationen der Polizei über Einbrüche und Verkehrsunfälle in lesbares Französisch zu übertragen.
„Ich würde gern einen Artikel beisteuern und möchte Platz dafür haben.“
„Worüber?“ fragte Barre.
„Das möchte ich noch nicht sagen, es hängt davon ab, ob ich im Archiv etwas finde, was mir noch dafür fehlt.“
„Wie lang soll der Artikel denn werden?“ fragte Makoulian, der Lokalredakteur, „wir hätten noch Platz für einen Dreispalter.“
„Das kommt auf jeden Fall hin“, meinte Cellier.
„Also gut, ich brauche ihn mindestens eine halbe Stunde vor Redaktionsschluss.“
„O.K. Und was ist, wenn ich ihn nicht zustandekriege?“ fragte der Reporter.
„Das ist kein Problem. Dann füllen wir die Lücke mit einer Anzeige.“
Cellier nickte, mischte sich unter die zur Tür drängenden Kollegen, eilte durch den Flur zum Aufzug und fuhr zum dritten Stock, wo die Lokalredaktion residierte.