Der Diplomatenkoffer. Hans W. Schumacher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans W. Schumacher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847654988
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wittert hinter jedem alten Sprachgebrauch irgendeine schlechte Gesinnung", meinte Danielle, "und dann will man mit neuen Wörtern die Leute in die Falle locken: wer nicht Schwarzer sagt oder besser noch Farbiger, den hat man als Rassisten entlarvt, hurra!"

      "So einfach ist das", meinte auch Rude, und ließ das Schnappschloss wieder aufspringen. "dasselbe Spiel betreibt man mit dem Wort Kapitalist, das eigentlich nichts weiter bedeutet als ein Mensch, der Geld besitzt. Solange er Geld in der Tasche hat, ist jeder Mensch Kapitalist. Aber seit Marx entdeckte, dass Kapital böse ist, sind alle moralisch minderwertig, die auch nur einen Pfennig ihr eigen nennen."

      Julio stimmte ihm begeistert zu, aber als plötzlich beide Schlösser aufsprangen und Rude den Kofferdeckel leise mit den Daumenspitzen anhob, riss er ihm sein Spielzeug vom Knie: "Du machst einen ganz nervös. Jetzt ist aber Schluss damit!"

      Diese Aktion war so ruckartig geschehen, dass ein Banknotenpäckchen hochsprang und zwischen den Deckel und den Kofferrand geriet. Julio merkte es nicht und versuchte vergeblich, den Deckel zu schließen. Der Bretone zog es blitzschnell hervor, hielt es lachend in die Höhe und rief: "Kapitalistenschwein!" Julio schlug verzweifelt den Deckel zu und drückte die Verschlüsse ein.

      "Das nenne ich wirklich schizophren", tadelte das Mädchen, das Danielle Bertrand hieß, den Bretonen, der Julio reumütig das Päckchen zurückgab, "erst erklärst du das Wort Kapitalist für wertneutral, und dann ist Herr Martini auf einmal ein Kapitalistenschwein."

      "Hai ragione (du hast recht)", gab Rude zu, während Julio das Päckchen mit zitternder Hand in seine Rocktasche steckte, "la parola era soltanto dettato dall'invidia (das Wort war nur vom Neid diktiert). Aber sag mal, Julio, was machst du mit all dem Zaster, da ist doch noch mehr drin?"

      Not macht erfinderisch. "Ich muss heute Abend ein Appartment anzahlen. 90.000 NF. Der Besitzer will es in bar haben", log Julio kurz und knapp. Lange Erklärungen wirken nicht überzeugend.

      "Na, das ist doch wieder mal so ein Steuerbetrüger", vermutete Bonnard, "und deswegen musst du das ganze Geld mitschleppen und riskierst, dass dir jemand in einer dunklen Ecke eins über den Schädel gibt."

      "So ist das Leben!" murmelte der Sprachlehrer, der von seinem Abenteuer so mitgenommen war, dass ihm alle Gliedmaßen schmerzten, "sagte mal, wärt ihr mir sehr böse, wenn wir uns jetzt trennten. Ich bin todmüde, hatte eine schlaflose Nacht.“

      „Durchgemacht, eh?" meinte Rude.

      "Nein, ich machte mir Sorgen wegen des Bankkredits, den ich aufnehmen musste. Weiß noch nicht, wie ich ihn zurückzahlen soll. Aber ich brauche eine Wohnung."

      "Aber du hast doch hier ein kostenloses Zimmer", erinnerte ihn Rude.

      "Muss man euch denn alles auf die Nase binden, ich habe eine Verlobte, wir wollen zusammenziehen."

      Das Mädchen machte ein Gesicht, als wäre ihr das gar nicht recht. Die Jungen stießen sich in die Rippen und kicherten.

      "Toujours la sessualité", zitierte Bonnard aus Zazie dans le métro.

      Sie gingen zusammen zum Wohnheim II hinüber, einem ungemütlichen dreistöckigen Betonbau. Vor seiner Tür verabschiedeten sie sich voneinander

      "Wir sehen uns vielleicht nach dem Abendessen zum Billard", sagte Julio und klopfte Rude freundschaftlich auf die Schulter, um wieder einen Eindruck von Normalität entstehen zu lassen. Im Grunde aber hatte er das Gefühl, dass sie ihn alle bohrend betrachteten, als wüssten sie um sein Geheimnis. Als er in der Tür einen Blick hinter ihnen herwarf, sah er, wie sie die Köpfe zusammensteckten, während sie zur Cafeteria hinüberschlenderten. Danielle lachte auf, und der Libanese drehte sich ruckartig um, als wollte er sich vergewissern, ob Julio etwas von ihren Reden mitbekommen hatte. Der spielte den Gleichgültigen, wandte sich um, schloss die Tür auf und betrat sein Zimmer.

      Viel Einrichtung war zwischen den weißgestrichenen Betonwänden nicht anzutreffen. Es gab nur drei bewegliche Möbel, einen Stuhl, einen Tisch und ein Metallbett, dazu ein Waschbecken mit Spiegel, einen großen Wandschrank und ein in die Wand eingelassenes Bücherregal. Eine Gefängniszelle hatte mehr Komfort. Vor dem Fenster hing ein zweiteiliger Vorhang aus gelbem Plastikmaterial. An den Wänden hatte er mit Klebestreifen ein paar Plakate mit italienischen Motiven befestigt, damit der Raum nicht allzu kahl und ungemütlich aussah. Nachdem er die Tür mit vor Aufregung zitternder Hand von innen abgeschlossen hatte, vergewisserte er sich, dass niemand durch einen Spalt im Vorhang sehen konnte, denn sein Zimmer lag im Erdgeschoss, warf das Köfferchen aufs quietschende Bett, und setzte sich daneben.

      Beinahe versagten ihm die Arme den Dienst, so bebten sie, als die Verschlüsse aufsprangen, als er den Deckel lüftete und endlich seinen Schatz in Ruhe betrachten konnte. Wie in Trance verloren, nahm er ein Päckchen nach dem anderen heraus, wobei er sich ständig verrechnete, weil ihm tausend Gedanken durch den Kopf schossen. Nach mühsamen Kampf mit dem Einmaleins kam er auf die Summe von drei Millionen Euro. Er packte den Haufen und drückte ihn gegen seine Brust.

      Er musste es Cleo sagen, sofort, sie musste wissen, dass alles Elend mit der Bank des Heiligen Geistes vorbei war, dass ein neues Leben ohne Sorgen für sie begann, nur der Kunst und der Liebe gewidmet. Aber wo sollte er telefonieren? Ein Mobiltelefon besaß er nicht, bisher hatte es seine Finanzlage nicht zugelassen. Der Apparat vor der Cafeteria hing unter einer Plexiglashaube an der Korridorwand, jeder konnte mitbekommen, was er sagte. In der Post war es das gleiche. Er hatte den Verdacht, dass Monfils aus Langeweile alle Gespräche mithörte. Er lächelte immer so verständnisvoll, wenn Julio nach dem Telefonat mit Cleo seine Rechnung beglich.

      Der Mann im Trenchcoat hatte sich geirrt. Er hatte das Geld dem Falschen übergeben und zwar für eine Ware, die er in Julios Diplomatenkoffer vermutete. Julio hatte genügend Zeitung gelesen, um zu wissen, worum es sich handelte. Rauschgift! Die kleinen Plastikpäckchen mit Heroin oder Kokain, die der Experte mit seinem Taschenmesser ansticht, um eine Probe auf die feuchte Finger- und Zungenspitze zu nehmen, was der Mann im Trenchcoat aber versäumt hatte.

      Aber wie konnte es zu dieser Verwechslung kommen? Er hatte eine verworrene Vorstellung, wie es geschehen sein konnte. Er war wohl eine Zeitlang eingenickt. Jetzt erinnerte er sich, er hatte von Cleo geträumt, wie sie sich auf dem Sofa dehnte, ihre bunten Ketten am Hals und die mit Reifen geschmückten Arme nach hinten über die Lehne ausgestreckt. Er hatte gedacht: Wenn ich sie doch so malen könnte, wie Delacroix Cleopatra, die Königin von Ägypten gemalt hätte, halbnackt in den Armen von Cäsar in seiner römischen Rüstung. Cäsar? Hatte nicht jemand "Cäsar" geflüstert? Ja, das war es, und er hatte in seinem Dämmerzustand "Cleopatra" geantwortet. Das Passwort für den Austausch.

      Cleopatra hatte das Glück gebracht. Ah, wenn sie jetzt hier wäre und er könnte die Geldscheine über ihren nackten Leib regnen lassen, wie es einer Königin gebührt!

      Aber plötzlich machte sein Herz einen Sprung. Statt Heroinsäckchen abzuwiegen, blätterten nun Hände, die geübt waren, mit scharfen Dolchen Hoden ab- und Herzen herauszuschneiden, in zwanzig Bänden Italienisch für Fortgeschrittene auf der Suche nach dem Namen ihres Besitzers.

      Kalter Schweiß trat auf seine Stirn, er wischte ihn mit der Hand fort und begann fieberhaft nachzudenken. War noch irgendetwas in und an seinem Diplomatenkoffer, was einen Hinweis auf ihn geben konnte? Wenn er sich bloß erinnern könnte? Steckte etwa sein Taschenkalender darin? Er betastete sein Jackett, und ein Stein fiel ihm vom Herzen, das Büchlein war in der linken Brusttasche, seine Brieftasche in der rechten. Sonst gab es nichts Auffälliges, weder hatte er seinen Namen in die Aktenmappe geschrieben, noch war ein Firmenlogo des Verkäufers darin eingeklebt.

      Blieben nur die Bücher, und die waren Hinweis genug. Er sprang auf und lief im Zimmer hin und her, erschrak, als er sich im Spiegel sah mit zerzaustem Haar und verstörtem Blick. Er musste fort von hier, das war das erste, das zweite, er musste so schnell wie möglich zurück ins Hotel de Médicis, um alle Spuren seines Daseins zu beseitigen.

      Natürlich brauchten sie Zeit, ehe sie auf ihn kamen. In Paris und Umgebung existiertengewiss mehr als zwei Dutzend Institutionen, an denen Italienisch gelehrt wurde: staatliche Schulen und Hochschulen, Privatschulen, Sprachlehrinstitute, das Istituto Dante. Aber besonders letzteres war zu