Der Diplomatenkoffer. Hans W. Schumacher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans W. Schumacher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847654988
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brachten ihm Schelte von beiden Seiten ein: die Linken sahen in ihm einen Konservativen, die Rechten einen Anarchisten. Das kümmerte ihn wenig, solange die Auflage stieg oder zumindest nicht zurückging.

      Dank der Konferenz, die nicht weit davon stattfand, wurde der sonst so stille Ort von ungewohntem Lärm in Mitleidenschaft gezogen. Hupend brausten schwarze Limousinen, eskortiert von donnernden Motorrädern, vorüber, obwohl der Platz in der Fußgängerzone lag oder eine Gruppe von Demonstranten zog geräuschvoll, Fahnen und Transparente schwenkend, in Richtung Place de Gaulle, wo die Tagungsstätte lag.

      Barre schien zu frösteln, obwohl die Infrarotheizung eingeschaltet war, war da eine Grippe im Anzug? Thierry bemerkte seine Einsilbigkeit und versuchte, ihn mit alten Witzen aufzuheitern, aber Barre hatte nur ein müdes Lächeln dafür übrig. Da er immer so viel um die Ohren hatte, musste er einen Notizkalender von der Größe eines Lexikons mit sich führen. Während ihm der Kellner sein Bier servierte, zog er das Buch aus der Brusttasche, kontrollierte die Eintragungen, aber nichts lag vor. Plötzlich juckte es ihm am rechten Handballen, er kratzte sich mit der Linken heimlich unter der Tischkante, aber der Reiz nahm zu, dann juckte es hinter dem rechten Ohr, eine Hitze flog über die Gesichtshaut und auf dem Handrücken breiteten sich rote und weiße Quaddeln aus.

      „Das ist eine Sonnenallergie“, meinte Sagan, der interessiert seinem Kampf zusah.

      „Und was macht man dagegen?“ fragte Barre.

      „Calcium“, sagte Miranda Farnèse, die Reporterin, die eben ihren gewohnten Platz zwischen Barre und Sagan einnehmen wollte. „Ich hole Ihnen etwas aus der Apotheke.“

      Barre krempelte den Ärmel auf, um zu sehen, wie sein Unterarm rot anlief.

      „Nicht kratzen“, riet der Herausgeber, „dann wird es nur noch schlimmer.“ Er bestellte beim Kellner vorsorglich eine Flasche Selters.

      Miranda eilte mit einem kleinen Karton herbei, wehrte Barres Bemühungen ab, den Preis dafür zu erfahren, öffnete eines der Cachets und ließ es in das Glas mit Thermalwasser fallen.

      „Schlucken“, rief sie und hielt wie eine Krankenschwester das sprudelnde Getränk an Barres Lippen. Der schlürfte gehorsam und fühlte verwundert, wie Hitze und Juckreiz allmählich nachließen. Nach fünf Minuten hielt er Miranda einen weißen Arm entgegen:

      „Hohepriesterin, du kannst mich für geheilt erklären.“

      Er wollte ihr die Schachtel zurückgeben. Sie fand das verfrüht, man könne nicht wissen, ob er das Mittel nicht noch einmal brauchen würde.

      Da nichts interessanter ist, als über die eigenen Krankheiten zu reden, drehte sich das anschließende Gespräch nur noch um Allergien: auf Pollen, auf Milch, Erdbeeren, Krebsfleisch, Penicillin, Beizen, Farben.

      Thierry erzählte, wie er einmal von einem Kontrastmittel, das ihm vor dem Röntgen seiner Nieren gespritzt worden war, beinahe „hops gegangen“ wäre, wie er sich ausdrückte.

      „Mir war, als ob wenn mein Kopf platzte, der Puls schlug gegen die Schläfen wie ein Vorschlaghammer, ich erstickte beinahe, hörte schon die Engel im Himmel kreischen...“

      „Dann waren es wohl eher die Teufel, die sich auf dich freuten“, meinte Barre. Thierry schüttelte in sich gekehrt das graue Haupt, als sei ihm nicht zum Scherzen zumute.

      „Und, wie haben Sie es überlebt?“ fragte Miranda Farnèse gespannt.

      „Man gab mir ein Gegenmittel. Da war es vorbei. Aber den Schrecken vergess‘ ich nie.“

      Sagan hatte hastig gegessen, weil er einen wichtigen Termin hatte, wie er sagte, stand auf und verabschiedete sich von allen so, wie er sie begrüßt hatte, per Handschlag und mit angedeutetem Diener.

      Barre, der ihn eigentlich nicht recht leiden mochte - er musste ihn einstellen, weil es der alte Bétancourt verlangte - fand aber seine altmodischen Manieren sympathisch. Der weiß doch wenigstens noch, was sich gehört, dachte er. Sagans Artikel fand er solide und langweilig, soweit er den Inhalt überhaupt verstand, allzu tief war er in die Geheimnisse des Kredit- und Börsenwesens nicht eingedrungen. Bedenklich erschienen ihm Sagans immer öfter vorgebrachten Tiraden gegen „die in Brüssel“, die Hinneigung zum Protektionismus Chévènements, sogar Le Pen bekam zuweilen gute Noten ab. Stellte Barre den Finanzredakteur zur Rede, konnte es sein, dass dieser ihm höflich, aber eiskalt antwortete und durch die Blume zu verstehen gab, dass der Chef von Finanzpolitik wenig Ahnung habe. Er hielt sich für unangreifbar, weil er der Rückendeckung seines Schwiegervaters sicher war. Da Barre das selbst wusste, musste er zurückweichen, aber es war verständlich, warum er ihm nicht recht grün war.

      Mit Arthur Bétancourt dagegen hatte er sich nach anfänglichen Schwierigkeiten arrangieren können, was die politische Ausrichtung des Blattes betraf, denn die Achtung des Kapitalisten für ihn stieg mit dem wachsenden Gewinn der Zeitung. Und Geld besänftigt auch ideologische Bedenken.

      Der Unternehmer residierte in einer prachtvollen Villa auf einer ins Meer vorgeschobenen Klippe östlich von Nizza. Er war dreiundachtzig Jahre alt und hatte schon lange keinen Fuß außerhalb seines Grundstücks gesetzt. Barre, der mit ihm ausschließlich telefonisch verkehrte, wusste wenig über seinen eigentlichen Gesundheitszustand. Mal wurde kund, Arthur werde das Jahresende wohl nicht mehr erleben, dann wieder trompetete man, er würde bestimmt hundert, so gut sehe er aus.

      Miranda betrachtete ihren Chef während des Essens von der Seite und fragte sich, warum er so geistesabwesend vor sich hingrübelte. Die Aufklärung erfolgte prompt. Barre schlug sich die Hand vor die Stirn und murmelte: „Ich wusste doch, dass ich etwas vergessen hatte,“ wandte sich zu Makoulian am Nebentisch um und rief hinüber: „Was ist denn nun mit dem Artikel von Cellier?“

      Der Lokalredakteur teilte mit, der Reporter habe bis etwa halb elf im Büro gesessen und sei dann ins Archiv gegangen, seitdem habe er ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen. Lisette bestätigte das: Cellier habe, bis sie um Viertel vor zwölf ihren Arbeitsplatz verlassen habe, in der hintersten Ecke gesessen und alte Zeitungen durchstöbert.

      „Was hat er denn gesucht?“ fragte Brice.

      „Ich weiß nicht. Ich bot ihm meine Hilfe an, aber er meinte, er käme allein zurecht.“

      Makoulian wunderte sich, warum Barre der Lokalreporter so intrigierte. Und Miranda, die den Chefredakteur beobachtete, fand ihn auch seltsam erregt. Um ihn zu beruhigen, sagte sie: „Chef, es sind doch noch drei Stunden bis Redaktionsschluß. Cellier wird das schon schaffen.“

      Miranda Farnèse begriff gut, dass Barre neugierig war. Es war sein Beruf, neugierig zu sein, und seine Leidenschaft bestand darin, früher als alle anderen zu wissen, was am Kochen war. Sie glaubte, dass diese Neugier eine Art überzüchteter Sicherheitsinstinkt war, der ihn wie ein Eichelhäher im Walde Alarm geben ließ, sobald auch nur die geringste Gefahr zu wittern war. Als seine Schülerin hatte sie diese Eigenschaft geerbt und war ihr zum Instinkt geworden.

      „Ich kann doch hinüberlaufen und ihn fragen“, regte sie an und stand auf.

      Barre drückte sie auf ihren Stuhl nieder: „Lass’ mal, Mira! Ist doch nicht so wichtig. Wenn es schon jemand macht, dann kann das auch ein Mann tun.“ Er schaute sich um, aber keiner der Herren in der Runde schien gewillt, sein Essen kalt werden zu lassen.

      „Alles echte Gentlemen hier“, seufzte der alte Mann verbittert.

      Ehe er noch weiteren Protest anmelden konnte, ließ die Reporterin ihr Essen stehen, nahm den Archivschlüssel aus ihrer an der Stuhllehne hängenden Handtasche, und während Barre aufstand und ihr hilflos nachschaute, eilte sie über den belebten Platz auf das Portal zu, nickte dem Pförtner zu, durchquerte den breiten, für Autos befahrbaren Zugang zum Hof, betrat das rechte Treppenhaus und fuhr mit dem Aufzug zum dritten Stock hinauf.

      Lisette Makoulian, die Leiterin des Zeitungsarchivs, hatte wie immer, wenn sie mit ihrer Hilfskraft essen ging, die Tür des Archivs abgesperrt, aber jedes Redaktionsmitglied besaß einen Schlüssel dafür, damit man auch bei ihrer Abwesenheit von ihren Schätzen Gebrauch machen konnte. Miranda schloss auf, betrat den Vorraum mit den Sicherheitsboxen,