„Da vorn, das könnte es sein!“ Der Einsiedler sah sich zu ihnen um, wies weitergehend mit ausgestrecktem Arm wohl fünfzig Schritt voraus. Dorthin, wo die von Efeu überwucherte Mauer vor blauem Himmel endete. Ein schmaler Vorsprung schob sich dort ins Nichts. Schob sich wie eine von der Sonne warm beschienene Halbinsel aus blankem Fels ein ganzes Stück aus dem Abbruch hinaus. Im vorderen Teil des nur mit kniehohem Buschwerk bewachsenen Vorsprungs eine mächtige Kiefer. Zäh und tief hatte sie sich im Stein festgekrallt, hielt ihn vermutlich in gleichem Maße, wie er sie, und reckte ihre gebogenen Arme weit über den Abgrund hinaus.
Zunächst interessiert, betrachtete Moshe den Vorsprung mit jedem Schritt skeptischer, „Sieht eher aus, wie eine ideale Hinrichtungsstätte, wie ein Galgenort.“
Die schroffen Abbruchkanten des Vorsprungs musternd, registrierte Therese die Nähe zum Haus, „Wer will schon einen Halunken vor seinem Fenster baumeln sehen? Gräber könnten dort schon einen Sinn ergeben.“
Und offensichtlich gab es einen Sinn: Deutlich, und noch bevor sie den Vorsprung erreichten, konnten sie die drei gleichen Erhebungen erkennen. Dicht nebeneinander lagen sie im flachen Kraut und Gras direkt unter der Kiefer, vom Haus aus gut einzusehen.
Verdutzt standen sie dann einen Moment vor den kleinen Vierecken. Keine zwei Schritte lang und weniger als einen Schritt breit wirkten sie, wie verschlossene Kisten. Vergessen, in den Boden eingesunken und nur eine handbreit herausschauend.
„Kindergräber!“ Therese musterte die grauen Steinplatten, die jedes Grab bedeckten und deren Inschrift noch gut zu lesen war. „Alle drei Kinder sind im Jahr des Herrn 1525, im Mai gestorben!“ Sie sah auf, „Vielleicht war da auch Krieg.“ „Sieht mir eher nach Pest aus!“ Moshe wies mit dem Kopf über die Schulter zurück zur Burg. „Warum sollte man sie sonst hier draußen begraben?“
„Hier außen ist das Grab!“
Der Einsiedler beugte sich über das Grab auf der rechten Seite, wischte sorgfältig mit der flachen Hand über die Grabplatte, „LUCIA–BENEDICTA“, so hieß das arme Kind.“ Lächelnd sah er auf, vermied es Moshe anzusehen, „Wir haben es gefunden! Ein gutes Versteck!“
Er beugte sich wieder vor, tastete mit den Fingern unter dem Überstand der Steinplatte entlang nach einer Stelle, an der er gut angreifen konnte. Mit einiger Anstrengung hob er die Steinplatte an, löste sie ungehindert vom Untergrund und schob sie ein Stück zur Seite. Ein starker Geruch nach Pech entströmte der kleinen dreieckigen Öffnung. Der Einsiedler kniete nieder, versuchte unter der Öffnung etwas zu erkennen.
„Ich sehe nur schwarzen Grund, sieht wie Bretter aus!“ Aufstehend zu Moshe: „Lasst uns die Platte ganz abheben und aufs andere Grab hinüber schieben.“
Es waren tatsächlich Bretter. Roh und pechgetränkt lagen sie dicht nebeneinander, füllten den Innenraum des kleinen Vierecks aus, erinnerten an eine sorgfältig gefertigte Luke, unter der eine Holztreppe in die Tiefe führen könnte.
Der Einsiedler zog im Niederknien ein Messer aus seinem Gewandt, schob es zwischen Holz und Außenwand, hebelte so eines der ersten Bretter heraus, hob danach die nächsten Bretter einfach ab und sah vornübergebeugt in die schmale Öffnung, zunächst interessiert, dann ungläubig, reglos. Langsam, so als stemme er dabei ein schweres Gewicht in die Höhe, erhob er sich, sah sie einen Augenblick schweigend an, ernst.
„Wir haben es gefunden, und ich fürchte, da liegt genug, um alles Unheil der Welt auf sich zu ziehen!“
Sie hatte jede seiner Bewegungen mit Spannung verfolgt, sah ihn jetzt an, unsicher, während Moshe neben ihr niederkniete, in die Öffnung hineinlangte und einen prallen, schweren Lederbeutel heraushob. Beide sahen sie zu, wie Moshe den Lederriemen löste, den Beutel ganz öffnete, vorsichtig hineingriff, zwei Münzen heraushob und sie aufmerksam betrachtete.
„Florentiner!“ Ohne den Blick von den Münzen abzuwenden, hob er sie auf der flachen Hand hoch, „Wertvoller geht’s nicht!“ Er sah sie kurz an, sah dann hinunter in die Öffnung, aus der er den Beutel hervorgehoben hatte, ohne die Hand herunter zu nehmen. „Da liegen noch mindestens drei Beutel. Wenn die alle das Gleiche enthalten …!“ Er nahm die Hand herunter, ließ die Geldstücke zurück in den Beutel fallen, verschloss ihn wieder und wandte sich dann erneut der Öffnung zu. Nacheinander hob er ein Brett nach dem anderen ab und setzte sich dann kopfschüttelnd auf seine Fersen zurück.
„Warum hat der Mann nur weiterhin seinen Kopf hingehalten? Das ist mehr, als man in einem Leben erwirtschaften kann!“
Weil er es aussprach, pflichtete sie ihm still bei, sah jedoch schweigend und fassungslos auf drei Tongefäße herunter, die einen Großteil der Öffnung ausfüllten. Tief in den Boden eingelassen, sahen sie nur mit dem gewölbten Rand heraus und waren bis zu diesem mit den Beuteln gefüllt, das heißt, im dritten Gefäß fehlte noch die obere Schicht von drei Beuteln. Sie wandte den Kopf, blickte direkt in das Gesicht des Einsiedlers, der sie offenbar mit fest zusammengepressten Lippen beobachtet hatte, besorgt, ratlos, „Wofür braucht man so viel Geld?“
Was sollte sie antworten? Sie schwieg, nachdenklich. Unsicher dann: „Ihr habt es selbst gesagt, Johannes wollte nicht mehr abhängig sein, wollte frei sein.“
Er zog die Lippen nach unten, geringschätzig, zuckte mit den Schultern, „Ich habe kein Geld, gar nichts! Und ich bin nicht weniger frei, als die Tiere des Waldes. Um frei zu sein braucht man besser kein Geld.“
„Aber es kann auch nicht jeder so leben wie ihr!“ Moshe sagte es bestimmt, mit einem unüberhörbar ärgerlichen Unterton und erhob sich dabei aus seiner knienden Haltung. „Ich denke nur darüber nach, wie wir solch eine Menge hier unauffällig wegtransportieren wollen.“ Er sah zurück zur Burg, überflog rasch die Umgebung.
Der andere neben ihm folgte seinem Blick, nickte ruhig, „Mit solch einer Menge Geld im Rücken wollte ich nicht übers Land fahren. Ich hätte ständig Sorge, es würde die Halunken anlocken wie Schmeißfliegen.“
Moshe sah ihn gerade heraus an, verstand nicht, „Wie sollte es das? Ist doch nichts anderes, als hätte ich Stroh oder Rüben auf dem Wagen, sie wissen es doch nicht, dass ich da irgendwo Geld auf dem Wagen habe!“
„So richtig eingefleischte Halunken können Geld vielleicht riechen, oder sie haben ein Gespür! Ich würde mir das jedenfalls so vorstellen.“
Moshe zog grinsend die Mundwinkel nach unten, schüttelte den Kopf, „Wenn das so wäre, dann brauchten diese armseligen Hungerleider ja nicht immer wieder ihren Kopf für ein paar Groschen riskieren. Sie wären in der Mehrzahl längst reich. Geld ist genug unterwegs! Sie erkennen es eben nicht!“…
2. Teil Ein übel riechendes Vermächtnis
„Uiih“ Quiekend und mit einer hastigen Bewegung zog Margret ihr zuvor ausgestrecktes Bein an, wischte dabei erschrocken einen großen, glühenden Holzspan zurück in die Glut, von wo er gerade zuvor mit lautem Knacken zu ihr herüber gesprungen war.
„Gut hast du das gemacht!“ Eben noch ganz ernst blitzte Thereses jetzt humorvoll zu ihr herüber, während sie den restlichen Inhalt ihres Bechers auf den Boden tropfen lies.
„Was habe ich gemacht?“ Erschrocken, fragend, ihr Schienbein reibend, sah Margret sie an, lachte dann aber im nächsten Augenblick laut auf: Franz, neben Therese sitzend, erhob sich langsam auf die Knie, zog mit spitzen Fingern seine im Schoß und am Oberschenkel durchnässte Hose von der Haut.
„Gut gemacht, ja!“ Franz sah zu ihr herüber, gespielt ärgerlich, den Schalk in den Augenwinkeln.
Als wäre es unten in der Gegend des Bauchnabels entstanden, sprang Margret