Mit der Wut des Überlebens. Lars Gelting. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lars Gelting
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738026283
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Mund, einer kräftigen Nase und einem eckigen Grübchenkinn. Gekleidet war er wie die meisten vornehmen Kaufleute, die sie in diesem Hause gesehen hatte, und die es sich offensichtlich leisten konnten, ihre Kleidung in einem gewünschten Stil passend nähen zu lassen. Obwohl eigentlich noch jung an Jahren, vermittelte er den Eindruck großer innerer Sicherheit und Ruhe.

       Ulrich habe ihm dabei geholfen, sie aus Magdeburg heraus zu bringen, er sei der zweite Mann gewesen. Sie konnte sich nicht erinnern, wusste noch, dass es zwei Männer waren, die sie über die Trümmerhaufen zogen und schoben. Alles andere, die stattliche Größe etwa oder diese beruhigende, tiefe Stimme Ulrich Wandeckis, all dies hatte sie gar nicht wahrgenommen.

      „Ulrichs Vater hat unser Geschäft in Magdeburg geführt, vor dem Brand. Ulrich kennt unsere Kunden dort und soll im Frühjahr hinüberfahren. Vielleicht ergibt sich ja eine Gelegenheit, euer Geld dort sicher anzulegen.“

       Überlegend sah sie von einem zum anderen. Ulrich Wandecki war also über das ihr plötzlich zugewachsene Vermögen informiert.

      „Ihr könnt Ulrich vertrauen! Er hat für uns schon andere Geldsummen sicher verhandelt und transportiert.“ Moshe nickte ihr aufmunternd zu und sie entschloss sich, das Spiel mitzuspielen.

       Und so war sie jetzt unterwegs mit Ulrich Wandecki, an den sie keine Erinnerung hatte, der ihr fremd war, dem sie merkwürdigerweise dennoch vertraute.

       Aber nun standen sie! Ulrich Wandecki hatte den Wagen unvermittelt angehalten, und zwischen Bäumen und Buschwerk eines kleinen Wäldchens standen sie wie verloren mitten auf der Straße.

       Ihr Begleiter wies mit ausgestrecktem Arm voraus: Magdeburg!

       Von einer kleinen Anhöhe sahen sie schweigend auf das herab, was Magdeburg hieß und was von der einstigen Perle des Reiches übrig geblieben war: ein nicht zu überschauendes Ruinen- und Trümmerfeld.

       An vielen Stellen sah es so aus, als stauten sich hinter der Stadtmauer die Reste der Zerstörung, würden so daran gehindert, in den vorbeifließenden Fluss oder in die Landschaft hinauszurollen. Kein Haus schien mehr ganz, allerorten ragte auch jetzt und immer noch schwarzes, verkohltes Gebälk aus dem Schutt hervor.

       Aufgewühlt und ohne es zu bemerken führte sie beide Hände vor das Gesicht, legte sie vor Mund und Nase. Sorgsam Verdrängtes wurde jäh lebendig, alles sah sie wieder vor sich, die Wütenden und die vielen Toten, Feuer, Rauch, zusammenstürzende Häuser, den Staub, die Ausweglosigkeit alleine zwischen den Trümmern, den totwunden Johannes. Weiter links von ihrem Standort erkannte sie die Anhöhe, von der aus sie damals zusammen mit den anderen Frauen zur Stadt hinunter gelaufen war. Erkannte die Brücke, unter der heute wie damals der Fluss dunkel und ruhig dahin strömte. Nur, jetzt herrschte Stille: Totenstille!

      „Ich glaube, ich kann da nicht rein!“ Ohne die Hände herunter zu nehmen, wandte sie sich um, „Ich habe alles wieder vor Augen!“

      „Brauchen wir auch nicht!“ Ulrich sah sie an, ruhig, verstehend. „Die Händler kommen zu uns in die Herberge. Das ist so üblich!“

       Sie nahm langsam ihre Hände herunter, sah wieder zur Stadt hinüber,

      „Wie sind wir da nur herausgekommen? Ich kann mich an alles erinnern bis zu dem Punkt, wo ihr mich in einen dunklen Raum geschoben habt. Mehr weiß ich nicht mehr!“

       Er beugte sich leicht zu ihr herüber, wies mit dem ausgestreckten Arm voraus, „Dort drüben, die Holzbrücke über dem Fluss, die zum Haupttor der Stadt führt! Rechts von der Brücke seht ihr die größere Kirche mit den zwei Türmen.“ Sie folgte seinem Arm, erkannte das große Gemäuer, dass sich über die niedrigen Trümmerhaufen erhob wie eine riesige Schachtel ohne Deckel. An der ihnen abgewandten Seite ragten zwei Türme wie abgebrochene Zähne über das Gemäuer hinaus.

      „Das ist die Johanniskirche: ausgebrannt! Auf dieser Seite der Kirche gibt es eine Gruft, in der wir damals gewartet haben, bis der Brand und das Rennen draußen vorbei war. Ihr habt solange geschlafen, zwei Tage lang. Und dann mussten wir euch noch wecken! Nachts sind wir über den Fluss und dann diese Straße entlang gelaufen, einen ganzen Tag und eine Nacht.“

       Er stieß die Luft durch die Nase aus, lehnte sich schweigend zurück. „Wir hatten Glück! Die meisten anderen hatten das nicht!“

       Die Herberge lag nicht weit von ihrem Weg entfernt direkt am Fluss, war einfach und ordentlich, die Wirtsleute freundlich, aber schweigsam.

       Ohne besonderen Hinweis gab ihnen der Wirt zwei Kammern, die klein, zweckmäßig eingerichtet und durch eine Tür miteinander verbunden waren.

      „Ihr wart schon mal hier?“ Sie fragte ohne aufzusehen, schob ihr Bündel mit dem Fuß in die Kammer.

      „Nein, aber die Herberge hat einen guten Ruf. Seid unbesorgt!“

       Sie schloss die Tür, blieb einen Augenblick stehen und musterte die Kammer. „Immerhin hat er uns ohne nachzufragen diese Kammern mit dem Durchgang überlassen.“

      „Hm, der Mann hat so seine Erfahrungen und wartet gar nicht mehr darauf, dass man ihn belügt!“ Ulrich stand leicht vorgebeugt im zu niedrigen Türrahmen, beobachtete schmunzelnd wie sie ihr Bündel zwischen Truhe und Tür an die Wand schob.

      „Vielleicht solltet ihr mir dann lieber helfen, die Truhe vor die Tür zu schieben.“ sie wandte sich ihm zu, die Augenbrauen hochgezogen.

       Das Schmunzeln wurde zum schelmischen Lächeln, „Warum sollte ich so etwas tun?“

       Ruhig richtete sie sich auf, sah ihn an, ernst, forschend.

       Besänftigend hob er beide Hände, „Nein! Ich habe ja gesagt, seid unbesorgt! Ihr habt mein Wort!“ Bestätigend und wie zur Beruhigung nickte er ihr zu, „Könnt ihr schreiben?“

      „Ein wenig!“

      „Wir wollen sehen, ob es reicht. Kommt!“ Er drehte sich herum ging in seine Kammer hinüber.

      „Wozu soll ich schreiben? Ich denke ihr verhandelt!“ Über ihr Bündel gebeugt verharrte sie, die Stirn gerunzelt, wartete auf seine Antwort, sah auf, als er wieder in der Türfüllung erschien, diese komplett ausfüllte.

      „Anders geht es zunächst auch gar nicht! Die Händler werden nicht mit euch verhandeln!“ Er sah sie ernst an, hielt ihr aufzählend zunächst den kräftigen Daumen hin, „Ihr seid eine Frau, und in diesem Geschäft gibt es keine Frauen – soweit ich weiß! Außerdem:“ er entfaltete seinen wohlgeformten Zeigefinger, „Ihr seid keine Jüdin! Als Christin dürft ihr also, wenn man es genau nimmt, kein Geld gegen Zins verleihen. Wenn sich ein Händler hierauf beruft ...!“ Einen Moment lang sah er sie mit großen Augen an, sah dann wieder zur Hand, um dort den dritten Finger zu entfalten. „Die Händler, mit denen wir es hier vornehmlich zu haben werden, arbeiten, solange ich denken kann, mit meinem Vater zusammen. Sie wissen, woher das Geld kommt und sie kennen mich und werden deshalb mit mir handeln wollen. So ist das!“

       So ist das! Seine ruhige, dunkle Stimme schloss das Gesagte ab, als wäre es unumstößlich!

      „Hm!“ Mit einem Ruck öffnete sie die Verschnürung ihres Bündels, „Wo ist euer Vater jetzt?“

      „In Dresden! Eigentlich sollte ich dorthin und er sollte seine Kunden in Magdeburg weiter bedienen. Aber dieser Überfall hier hat ihm ganz schön zugesetzt, er wollte nicht mehr!“

      „Verstehe ich nur zu gut! Und warum soll ich jetzt etwas schreiben, wenn ihr verhandelt?“ Sie richtete sich vollends auf, krauste die Stirn.

      „Es muss doch einen Grund geben, weshalb ihr bei den Verhandlungen anwesend seid. Wenn um viel Geld verhandelt wird, duldet niemand überflüssige Zeugen! Ich werde also