002 In der Schule
Mia drehte seit einigen Minuten eine Strähne ihrer langen dunkelbraunen Haare immer wieder um ihren rechten Zeigefinger. Dabei hoffte sie inständig, ihr würden die Vokabeln einfallen, die sie gestern neu gelernt hatten. Der lateinische Text vor ihr war relativ kurz, aber er hatte es in sich.
In die Stille hinein klopfte es und ohne ein „Herein“ stürmte Mias Mutter in die Latein-Stunde. Langsam, aber unaufhaltsam, stieg ein unangenehmes Gefühl in Mias Bauch auf. Was wollte ihre Mutter hier in der Klasse? Während einer Arbeit?
„Guten Morgen, Frau Vogelfang. Entschuldigen Sie die Störung, aber Sie wissen sicher schon, dass Mia-chen heute 14 wird und für alle selbstgebackenen Kuchen von mir mitgebracht hat. Leider hat sie die Sahne vergessen. Ich habe auch noch Pappteller, Plastikgabeln und Servietten mitgebracht.“
Bei „Mia-chen“ wurde Mia fast schlecht. Wie konnte sie nur! Vor der ganzen Klasse! Und dann die Scheiß Sahne. Wer isst denn bitte schön mit vierzehn noch selbstgebackenen Kuchen mit Sahne, auf Papptellern mit Plastikgabeln? Im Latein-Unterricht?
Studienrätin Gertrud Vogelfang schmunzelte in sich hinein. „Danke, legen Sie doch alles auf’s Pult, in der großen Pause kann Mia dann den Kuchen verteilen.“
Als Frau Beyer den Raum verlassen hatte, kehrte wieder Stille ein. Frau Vogelfangs Blick ruhte wohlwollend auf Mia-Marie. „Aus sehr gutem Haus, die Kleine“, dachte sie. „Wohl erzogen, klug und hübsch. Und so eine aufmerksame Mutter! Backt für 29 Schüler selbst Kuchen und bringt noch Sahne in die Schule. Manch andere Mutter steht nicht einmal auf, um ihrem Kind Frühstück zu bereiten. Ganz anders Frau Beyer. Was für eine schöne Kindheit Mia hat. Beneidenswert.“
Am Ende der Stunde sammelte Frau Vogelfang alle Hefte ein und ging mit einem Stück Apfelkuchen aus dem Klassenraum.
Mia hob derweil ihre rechte Hand, ballte sie zur Faust und sagte laut und deutlich: „Einer für alle, alle für einen“. Mit festem Blick gingen alle 29 Schüler aufeinander zu, bis sich ihre 29 Fäuste in der Mitte trafen. Danach gingen auch sie in die Pause, nicht ohne ihren Kuchen.
003 Familie Bayer
Bin wieder da.
Oh, schön, Mia. Wie war dein Tag?
War OK.
Und mein Kuchen? Hat er euch gut geschmeckt?
Ja, Mama.
Ich wollte es euch doch schön machen, Kindchen.
Wir waren mitten in einer Klassenarbeit, als du kamst.
Oh, das hat eure Lehrerin gar nicht gesagt. Das tut mir leid.
Ist schon OK, aber der Kuchen hätte auch OHNE Sahne geschmeckt.
Und nun erzähl mal. Wie fährt sich dein neues Rad?
Echt super. Ich hab nur 16 Minuten für die knapp vier Kilometer gebraucht.
Und die Strecke am Wald entlang? Ich hab mir schon Sorgen gemacht.
Wieso DAS denn?
Wenn da mal was passiert. Man hört so viel. Und die Autos fahren auf der Bundesstraße auch ziemlich schnell.
Mama, das war alles in Ordnung. Du machst dir zu viel Sorgen.
Mit diesen Worten verließ Mia die Küche, um ihre Schulsachen in ihr Zimmer zu bringen, ehe sie essen gehen konnte. Donnerstag war der einzige Tag, an dem sie schon mittags frei hatte, und nicht erst um 16 Uhr zu Hause war.
Gerade als sie die Küche verließ, betrat ihr Vater den Raum und setzte sich mit einer besorgten Miene an den Tisch.
„Elke, ich habe an der Türe etwas gelauscht. Es tut mir leid, aber du musst unserer Tochter vertrauen. Sie wird langsam erwachsen. Sie braucht mehr Spielraum, Freiheit. Du erdrückst sie mit deiner Ängstlichkeit.“
Elke spürte den intensiven Blick ihres Mannes, der sich in ihr Gesicht bohrte und dort wie festgeklebt haften blieb. Langsam bildeten sich Tränen in ihren Augen, ihr Blick verschwamm und ihre Stimme war nur noch ein hilfloses Schluchzen. „Ich will doch nur ihr Bestes“, stammelte sie. Johann Beyer erhob sich und ging zu ihr. Liebevoll legte er seine beiden Hände an ihre Wangen und flüsterte: „Wir machen das gemeinsam, Elke. Vertrau auf Gott und auch auf mich.“
004 FEE
Am späten Nachmittag ging Mia in den Garten des Pfarrhauses und pflückte einen riesigen Strauß gelber, roter und weißer Tulpen. Danach lief sie über den angrenzenden Friedhof zum ältesten Teil, der weit hinten zwischen gewaltigen Rotbuchen lag.
Neben einem Grab mit einem Findling kniete sie nieder. Der Findling hatte die Größe eines Bauernbrotes und war so schwer, dass man ihn gerade noch mit einer Schubkarre transportieren konnte. Auf dem Stein waren vor vielen Jahren Buchstaben und Zahlen eingehämmert worden.
FEE
16.05.1798 – 16.05. 1807
Vorsichtig nahm Mia die verwelkten Blumen aus der grünen Plastik-Vase und sortierte die frischen Tulpen hinein. „Fein“, sagte sie laut und erzählte Fee von ihrem peinlichen Erlebnis mit der Sahne in der Lateinstunde.
Ungefähr vor drei Jahren erfuhr Mia zufällig, dass ein kleines Mädchen vor mehr als 200 Jahren in der Kirche als Findelkind abgelegt worden war. Danach hatte sie im Internet den Namen Fee und den Ortsnamen Waddehörn eingegeben. Staunend las sie die Legende.
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Waddehörn ist ein Dorf im Landkreis Wittmund. Es liegt 4,3 Kilometer von Wittmund entfernt und hat 925 Einwohner. Urkundlich wird Waddehörn erstmalig im 17. Jahrhundert erwähnt. Die 72 Einwohner bauten damals ihre eigene evangelische Kirche, und zwar aus selbst gesammeltem Holz. Die kleine Kirche nannten sie Betstube. In dieser Betstube, so sagt es die Legende, wurde am 16. Mai 1798 ein Säugling abgelegt. Da die Mutter nie gefunden wurde, nannten die Bewohner das kleine Mädchen FEE. Fee wuchs praktisch bei allen gemeinsam auf. Sie half, als sie älter wurde, mal beim Füttern, holte die Tiere von der Weide, putzte und bereitete Essen für die Bauern auf dem Feld zu.
„Kurzum, sie war der Sonnenschein im Dorf und bei allen beliebt wegen ihrer Fröhlichkeit und Hilfsbereitschaft“, ist in einer alten Chronik nachzulesen.
An FEEs neuntem Geburtstag soll ihr ein Traum erfüllt worden sein. Sie bekam von Bauer Hinnerk Janssen ein Pony geschenkt. Bei einem kleinen Geburtstags-Ausritt traf es sich, dass Bauer Ubbe Ubsen seinen Hund erschießen musste, weil eine Falle seine Beine zerschmettert hatte. Dieser Schuss erschreckte das Pony von Fee derart, dass beide stürzten und das Mädchen sich auf einem Stein das Genick brach. Seit der Zeit blieb ihr Grab nie ungeschmückt.
Im 19.Jahrhundert galt die Kirche als einsturzgefährdet. Sie wurde danach abgetragen und durch einen Klinkerneubau ersetzt. Erst 27 Jahre später wurde der Kirche ein Turm angefügt.
Um die Kirche herum befand sich damals wie heute der Friedhof. Durch einen kleinen Gang, den Karkpad, gelangte man zum Pfarrhaus und zum Gemeindehaus.
Die drei Gemeinden Waddehörn, Upmeer und Ikenbargen teilen sich inzwischen Kirche, Friedhof und Gemeindehaus. Von den rund 2300Einwohnern der drei Gemeinden