Kapitel 3
Mein Retter war da anders. Er, also mein Retter, tauchte an dem bewussten Tag genau dort auf, wohin mich meine Füße gerade noch hingetragen haben und das war ausgerechnet der Spielplatz zwischen den Häusern 1 und 2 in der Zugspitzstraße in Wolfratshausen. Sie merken schon, jetzt geht es darum, dass Sie erfahren, wie das alles angefangen hat. Falls Sie nicht wissen sollten, wo dieses Wolfratshausen liegt, machen Sie sich am besten erst einmal schlau. Ich erzähle währenddessen schon mal weiter: Einige Stunden bevor ich auf meinen Retter traf, hatte ich versucht, es meinen Geschwistern nachzumachen und war aus dem Nest geflogen. Klar, ja? Ich bin eine Krähe, schlüpfe als solche in einem Nest aus einem Ei. Das Ei befindet sich in einem Nest. Das Nest befindet sich in einem Baum und aus diesem Nest bin ich an diesem bewussten Tag heruntergeflogen. Also, aus heutiger Sicht würde ich sagen, von ‚fliegen’ im eigentlichen Sinne des Wortes konnte da noch nicht die Rede sein und von denen im anderen Sinne erst recht nicht, obwohl die das erste ja auch können. Deshalb kann ich wohl froh sein, einigermaßen unversehrt auf dem Boden gelandet zu sein. Immerhin bin ich schon einmal gelandet und zwar heile. Nur weg kam ich von diesem Boden eben noch nicht wieder, also musste ich laufen und gelaufen bin ich nun einmal zu diesem kleinen Spielplatz in dieser seltsamen Zugspitzstraße in diesem seltsamen Städtchen an der Loisach, dass sich Wolfratshausen nennt, wo mein Retter versuchte, mit seiner kleinen Enkelin Julia Sandtürmchen zu bauen. Obwohl ich es vorgezogen hatte, mich so unauffällig wie möglich hinter einem dieser kleinen Holzhäuschen zu verkriechen, die den Spielplatz schmückten, dauerte es nicht lange, bis mein Retter mich entdeckt hatte. Mir war das offen gesagt eher ein wenig unangenehm. Schließlich bin ich ein Vogel und Vögel können nun einmal fliegen. Soviel immerhin hatte ich vom Vogelleben bereits begriffen. Meine Eltern hatten es mir schließlich vorgemacht, wieder und wieder und meine Geschwister...., na ja, das wissen sie ja schon. Ich denke mal, Sie werden verstehen, dass es mir ein weinig peinlich war, jetzt hier zu hocken auf diesem kleinen Spielplatz in dieser seltsamen Zugspitzstraße, zwar mit beiden Beinen auf dem Boden, aber eben mit wenig Erfahrung im Fliegen. Mein Retter hat da zum Glück gar nicht drauf rumgehackt, obwohl, oder gerade weil es für euch Menschen, wie ich heute weiß, geradezu ein Kompliment darstellt, wenn jemand behauptet, ihr stündet mit beiden Beinen auf der Erde. Im Gegenteil. Er hat mit mir geredet, als ob es ganz normal sei, dass ein Vogel so rumhockt und sich auf zwei Beinen bewegt. Seine Enkelin, das Julchen, war auch ganz nett. Sie hat so getan, als ob es auch für Krähen völlig ok sei, zu Fuß zu gehen. Irgendwie hatte sie das anscheinend selber gerade gelernt und fand entsprechend nichts dabei, dass ich mich so ähnlich fortbewegte. Das mag Ihnen jetzt alles ziemlich banal vorkommen. Aber um zu verstehen, wie es zu diesem entsetzlichen Drama kommen konnte, ist es wichtig, dass Sie die Vorgeschichte kennen und die nahm von jetzt ab ihren Lauf.
Sie können sich das sicher schon denken, mein Retter und seine Enkelin waren mir auf Anhieb sympathisch. Das lag vor allem daran, dass mein Retter auch ein rotes Bein hat, genau wie wir Vögel, nur eben etwas größer und auch nur einseitig. Aber damals – und ja, ich war noch sehr jung und unerfahren – hat mich der Mensch mit dem roten Bein irgendwie neugierig gemacht. Ich beschloss daher, mich bei ihm und seiner Enkelin einfach mal anzuhängen. Was genau ich mir davon erhofft habe, kann ich heute gar nicht mehr so genau sagen. Aber ich denke mal, ganz so abwegig ist das schließlich auch nicht. Immerhin waren nicht alle Artgenossen meines Retters allzu gut auf „Raben“ zu sprechen. Irgendwie sind wir denen, also euch Menschen, wohl zu schwarz. Das ist jetzt nicht politisch gemeint, schließlich sind wir nicht nur schwarz, sondern haben auch noch rote Schnäbel und Beine, also insgesamt gesehen sind wir politisch eher ausgewogen – mit ein bisschen mehr schwarz vielleicht, dafür aber kein braun. Ja, ok, grün und gelb auch nicht so, und das mit dem rot, nun ja, aber ich denke, dass mit der Antipathie der Menschen ist sowieso nicht so sehr politisch zu erklären, das ist mehr ein kulturelles Problem. Ihr haltet uns Krähen für Raben. Raben sind Vögel, die für die meisten Menschen etwas mit dem Tod zu tun haben, nicht wahr? Das sind die Nachwehen uralter Geschichten, die mit der Walhalla und ähnlichen Schauergeschichten und damit zu tun haben, dass die christlichen Mönche den Menschen im Norden, ihre alten Überzeugungen austreiben wollten. Das ist natürlich alles Hokuspokus, aber wer will das schon wissen. Mein Retter war da definitiv anders gepolt. Dem war ich genauso sympathisch, wie er mir. So was merkt man einfach. Also bin ich einfach mal hinter ihm her gewackelt, als er sich mit seiner Enkelin auf den Weg nach hause gemacht hat. Das war zum Glück nicht allzu weit weg. Ich brauchte nur an der Lärmschutzwand entlang zu laufen und schon war ich in dem Garten, in dem mein Retter verschwunden war. Eigentlich wollte ich ihm auch noch in die Wohnung folgen, in der er verschwunden war, aber da habe ich erstmals erlebt, dass Menschen sich gern hinter Glastüren verbergen. Das hat ein klein bisschen weh getan, war aber nicht sooo schlimm, weil ich ja nun mal zu Fuß unterwegs war. Also habe ich es mir im Garten bequem gemacht. Irgendwann würde er sich schon wieder blicken lassen – mein Retter, meine ich. Aber das dauerte. Meine eigenen Eltern beäugten das Geschehen übrigens die ganze Zeit über mit ziemlich gemischten Gefühlen aus der Luft. Ständig flogen sie über mir herum und versuchten mir zu erklären, dass ich mich einfach verhalten sollte wie eine normale Krähe. Wenn das so einfach gewesen wäre, hätte ich es gemacht, aber damals war es eben nicht so einfach. Ich fand die ständigen guten Ratschläge zwar ziemlich nervig, versuchte aber mein Bestes. Bei der Gelegenheit musste ich dann auch gleich die Erfahrung sammeln, dass elterliche Ratschläge nicht immer so gut sind, wie sie gemeint sind. In meinem Fall hätten sie mich um ein Haar sogar das Leben gekostet. Das lag daran, dass ich bei den kläglichen und vergeblichen Flugversuchen irgendwie in den Garten des Nachbarn meines Retters gelangt bin. Ich weiß selber nicht, wie das passieren konnte, aber dass es so war, das habe ich daran gemerkt, dass eine mir völlig fremde Stimme mit großem Geschrei ein anderes schwarzes Wesen davon abzuhalten versuchte, sich gnadenlos auf mich zu stürzen. Dieses andere schwarze Wesen konnte auch nicht fliegen, bewegte sich seltsamerweise auf vier Beinen und war - wie ich heute weiß - ein Hund, genauer gesagt ein Labrador, aber das ist eigentlich nicht so wichtig. Jedenfalls ein ziemlich großer Hund aber außerdem und glücklicherweise ein Hund, der gelernt hatte zu gehorchen. „Gehorchen“ das ist etwas, wie ich inzwischen weiß, was für euch Menschen, bei denen die Hunde wohnen etwas ganz Wichtiges ist. Merkwürdigerweise versucht ihr das bei Katzen nicht. Aber davon später. Das Dumme war nur, dass dieser Köter das nicht gleich einsehen wollte und das machte ihn so aggressiv, dass sein Frauchen richtig Mühe hatte, ihn zurück zu ziehen. Aber zum Glück ist ja nichts passiert. Die Frau mit dem Hund hatte erfreulicherweise kein Interesse daran, die Situation eskalieren zu lassen und zog es deshalb vor, den Gang zwischen der Wand und der Hütte mit einer Schubkarre zu versperren. Also, ich will mich nicht größer machen als ich bin. Ehrlich gesagt hatte ich da schon ziemlich Schiss und es hat einige Zeit gedauert, bis mein Panikanfall wieder vorbei war. Die Frau hat den Hund dann in der Wohnung eingesperrt und gewartet, bis mein Retter wieder auftauchte. Der Ausdruck Retter stammt übrigens nicht von mir. So haben ihn seine Verwandten genannt, weil er sich um mich gekümmert hat. Das sollte so eine Art Wortwitz sein. Mein Retter hatte damals eine Entzündung am Bein und wurde deshalb mit Retterspitz behandelt. Ja, war halt so. Was soll ich sagen. Menschen können tatsächlich ziemlich peinlich sein. Aber wem sage ich das? Was die Rückkehr meines Retters anbetraf, so dauerte das und ich muss ehrlich sagen, dass die Aufregung mit diesem schwarzen Biest nicht eben dazu geführt hatte, dass es mir wirklich besser ging. Vor allem hatte ich nun langsam so richtig Hunger. Bisher, also als ich noch im Nest saß, hatten sich ja meine Eltern darum gekümmert,