Im Oktober 1952, war ich elf, unsere Klasse ging mit unserer Lehrerin durch einen bunten Herbstwald. Sie erklärte uns, dass die Eichen ihre Blätter am längsten behalten und warum die Laubbäume Blätter verlieren und die Tannenbäume nicht. Wir sammelten an diesem Tag besonders schöne bunte Blätter um sie in der Schule zu pressen und im Klassenzimmer auf eine große Platte zu kleben. Unsere Lehrerin zeigte uns auf dem Waldboden, den sie mit den Händen freilegte, ein riesiges Pilzgeflecht. Sie erklärte uns, dass Pilze unsere Welt beherrschen und die Pilzforschung erst am Anfang stünde. Ich genoss den Geruch des Waldbodens. Rosanna und einige Jungs kletterten auf Bäume um schöne Blätter zu holen. Ich hatte eine neue Lederhose zum Geburtstag bekommen und wollte Harzflecken vermeiden, deshalb kletterte ich nicht. Plötzlich knackte es auf einem Baum, bei Rosanna war ein Ast gebrochen, sie war abgerutscht, hatte ihr Kleid zerrissen und sich aufgeschürft. Sie kletterte langsam und vorsichtig vom Baum. Frau Kofer sprach leise mit ihr und sagte zu uns: „Bitte kehrt zur Schule zurück und seid vorsichtig beim Überqueren der Straße. Ich laufe mit Rosanna zu meinem Auto um sie zum Arzt zu fahren, vielleicht hat sie sich verletzt.“ Wir waren im Schulhof, als Frau Kofer und Rosanna vom Arzt kamen. Frau Kofer sagte: „Es war glücklicherweise nicht schlimm. Rosannas Hausarzt sagte, sie hätte Glück gehabt. Ich fahre sie nach der Schule nach Hause und rede mit ihren Eltern, damit sie nicht schimpfen, weil ihr Kleid zerrissen ist.“ Ich fragte Rosanna: „Wie geht’s dir?“ Sie antwortete: „I bin halt a Weng verschrocke, on es tut au no weh aber es isch it so schlimm, i han mi gwundert, weil du nit klettert bisch.“ „Weisch“, antwortete ich, „mei neue Lederhos will i no a Weile schone.“ Rosanna nahm mich zur Seite und sagte: „Louis, wenn mir s' nägschte mal bei der Madame sin, no kann i mit dir vögle.“ Ich schaute sie an und sagte: „Des glaub i ja nit, hen ihr den Ofall abgschproche?“ Rosanna antwortete: „Nit ganz genau, aber mir hen beschproche, dass es so passiere könnt, on no han i denkt, wenn, dann heut. I möchte ja au a richtige Frau, un kei kleis Mädle mehr sei.“ Ich sagte zu ihr: „Rosanna i bewunder di, un i freu mi, dass i bald mit dir vögle ka, du bisch halt immer no s' schönschte Mädle.“ „Jetzt muss i dir sage, i glaubs fascht nit“, meinte Rosa, „i han denkt, dir dät d’ Lindtraud am beschte gfalle.“ Als wir weiter gingen, sagte ich: „D’ Lindtraud isch a tolls Mädle, on ganz arg lieb, on i kenn sie halt au sch obache lang, aber du siehsch eifach am schönschte aus, mit deine lange Füß, -ein Alemanne, der von Füß spricht, meint immer Beine- on deiner tolle Figur, on du hasch au s‘schönste Gsicht. Du wirsch schpäter a mol so toll ausseh, wie dei Mutter.“ „Des hät i nit denkt“, sagte Rosanna und lächelte, „du hasch‘s mir im Kindergarte gsagt, aber bsonders erschtaunt bin i, dass dir immer no mei Mutter gfällt, gucksch du denn erwachsene Frauen a? Wenn des mei Vater wüsst, no dät er dir a Loch in Zahn bohre.“ Rosa erzählte mir später: „Als Frau Kofer mit mir nach Hause fuhr und meinen Eltern den kleinen Unfall erklärte und vom Hausarzt die schriftliche Bescheinigung brachte, hatten sie kein Problem. Frau Kofer wollte bei meinem Vater zwei Zähne überkronen lassen. Meine Mutter bedankte sich bei Frau Kofer für die Mühe, die sie mit mir hatte. Frau Kofer sagte, Frau Friedrich, ich habe auf dem Lehrgang und in der Schule die Verantwortung für meine Schulkinder. Aber ich kann den Jungs und ihrer sportlichen Rosanna das Klettern doch nicht verbieten. Als ich sah, wie ein Ast brach, ihre Tochter abrutschte und mit ihrem Bein sich an einem andern Ast auffangen konnte, sah ich wie Rosanna erschrak. Deshalb fuhr ich mit ihr zum Arzt. Wenn Rosanna heiratet, kann sie ihrem späteren Ehemann zeigen, dass sie erstmals mit einem Mann schläft und nur durch ein kindliches Missgeschick keine Jungfrau ist. Meine Mutter umarmte Frau Kofer spontan und sagte, sie sind eine tolle Lehrerin, sie haben sehr umsichtig gehandelt, ich bewundere sie. Ich wünsche mir, dass Rosanna auch im Gymnasium eine so liebenswerte Lehrerin bekommt. Frau Kofer antwortete, ihre Tochter wird, unabhängig von den Lehrern, eine der besten Schülerinnen. Mein Vater bedankte sich für den Unterricht, den Frau Kofer zweimal wöchentlich anbot. Er sagte, meine Tochter geht gerne zu ihrem Unterricht. Frau Kofer antwortete, ihre Tochter kann mich gerne besuchen, wenn sie mal was vorhaben und weggehen wollen. Rosanna erzählte, sie hätten weder Verwandte noch Bekannte in der Nähe. Meine Mutter sagte, ihr Angebot ist überwältigend, wir können es kaum annehmen, weil wir ihnen dafür nicht mal was schenken dürfen. Rosanna erzählte uns von Lindtraud, die einmal wöchentlich bei ihnen übernachtet. Frau Kofer sagte, Herr Friedrich, ich bin nicht arm, aber wenn sie unserer Klassenkasse etwas spenden, würde ich es annehmen. Wenn sie mich behandeln und mir meine Krone erneuern, bitte ich sie, mich sehr vorsichtig behandeln, weil ich bin beim Zahnarzt ein fürchterlicher Angsthase bin. Mein Papa lachte und meinte, ich werde sie wie ein rohes Ei behandeln. Rosanna war beim Gespräch dabei. Sie sagte zu Frau Kofer, wenn sie bei meim Vater ihr Zähne richte lasset, no halte ihre Hand, damit sie kei Angscht hen. Frau Kofer sagte, Rosanna, das hilft mir sicher und das ist sehr lieb von Dir. Ich komme darauf zurück. Meine Mama sagte, wenn sie kommen assistiere ich meinem Mann. Aber Rosanna, du weißt doch, dass du nicht so breit alemannisch reden sollst. Frau Kofer sagte, ich habe mir vorgenommen, dass die Kinder, ab dem fünften Schuljahr, im Unterricht und auch nachmittags im Förderunterricht, hochdeutsch sprechen. Herr Friedrich sagte, das finde ich gut, weil Kinder mit Alemannisch in andern Bundesländern benachteiligt sind. Rosanna war froh, dass ihre Eltern wegen des zerrissenen Kleids nicht schimpften. Sie freute sich, dass ihre Eltern von unserer Lehrerin so angetan waren und zu ihr sagten, Rosanna, du kannst dich glücklich schätzen, dass du eine gute und nette Lehrerin bekamst.
Am Samstag sagte Frau Kofer: „Wir unterhalten uns heute über Demokratie, Parlamente, Regierung, unser deutsches Grundgesetz und Gewaltenteilung. Ihr seid noch jung, euretwegen wurde ich Lehrerin, meine lieben Schulkinder,