Kristallblut. Patricia Strunk. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Patricia Strunk
Издательство: Bookwire
Серия: Inagi
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738047608
Скачать книгу
Sie erstarrte. Ihrem Begleiter entging ihre plötzliche Anspannung nicht. „Drachen?“

      Beruk musterte gleichfalls den Himmel. „Ich sehe nichts. Bist du dir sicher, Sklavin?“

      Ishira nickte. Sie musste nicht einmal den Kopf heben um zu wissen, dass die Amanori ganz in der Nähe waren.

      „Bereitmachen!“ brüllte der Bashohon daraufhin, obwohl Ishira die Zweifel auf seinem Gesicht nicht entgingen. Aber als Zweiter Heerführer war er verantwortungsbewusst genug, seine Zweifel nicht zum Risiko für die ihm anvertrauten Männer werden zu lassen. „Die Drachen können jeden Moment angreifen!“

      Nicht nur die Raikari blickten jetzt kollektiv zum Himmel. „Bei Kaddors Blut, wo sind diese verfluchten Bestien?“ rief jemand.

      „Da!“ schrie einer der Schützen und deutete aufgeregt mit der Hand. „Da drüben!“

      Die Silhouette eines einzelnen Amanori löste sich aus den Wolken und glitt aufreizend gemächlich näher, als wüsste er um die Wirkung, die sein Erscheinen zur Folge hatte, und wollte sie bis zum Letzten auskosten. Die Raikari zogen ihre Waffen. Am diesseitigen Ufer bemühten sich die Schützen in aller Eile, die ‚Drachentöter‘ einsatzbereit zu machen.

      Lautstarkes Fluchen lenkte Ishiras Aufmerksamkeit zurück zum Fluss. Der Kutscher des Munitionswagens ließ die Peitsche knallen, um sein Gespann die Rampe hoch zu treiben, doch den Umasus war der plötzliche Tumult um sie herum zu viel. Schnaubend schüttelten sie ihre massigen Schädel, so dass der Wagen gefährlich zu schwanken begann. Die beiden Raikari mühten sich vergeblich ab, das Gefährt ruhigzuhalten.

      Kiresh Yaren packte Ishira an der Schulter. „Geh zwischen den Bäumen in Deckung!“

      Sie schüttelte heftig den Kopf. „Was ist mit meinem Bruder?“

      „Ihm geschieht schon nichts. Geh!“

      Ishira zögerte noch immer – und dann war der Amanori über ihnen. Er flog so tief, dass sie jede einzelne seiner schimmernden sandfarbenen Bauchschuppen und sogar die Adern in der ledrigen Haut seiner Schwingen erkennen konnte. Aber er griff nicht an. Er glitt einfach nur über sie hinweg, als sei er neugierig, was die Menschen unter ihm trieben, und würde sich einen Spaß daraus machen, sie in Schrecken zu versetzen. Als sein Schatten auf das Gespann im Fluss fiel, scheuten die Umasus und brachen zur Seite aus. Eines der Räder rutschte von den Stämmen und versank im Wasser. Dem dort stehenden Raikar gelang es gerade noch auszuweichen, als der Wagen in Schräglage geriet und die Ladung verrutschte. Einige der Steinkugeln durchbrachen die Seitenwand der Ladefläche und klatschten in den Bach. Kenjin klammerte sich verzweifelt an den Kutschsitz, aber mit seinen gefesselten Händen hatte er Mühe, das Gleichgewicht zu wahren. Die Umasus brüllten und stampften mit den Hufen, wodurch der Wagen erst recht Übergewicht bekam. Das rechte Umasu knickte mit den Vorderbeinen ein, als es von der Deichsel niedergedrückt wurde. Ishira schrie auf, als der Wagen kippte und krachend ins Wasser stürzte. Ihr Bruder sprang im letzten Moment ab und verschwand in den Fluten. Einen Moment lang tauchte er wieder auf und versuchte strampelnd, auf die Beine zu kommen, doch die Strömung war zu stark und riss ihn mit sich. Sein Kopf tauchte wieder unter Wasser.

      „Kenjin!“ Ishira presste ihrer Stute die Hacken in die Flanken, um ihrem Bruder zu Hilfe zu eilen, doch Kiresh Yaren versperrte ihr den Weg.

      „Du wartest hier!“ befahl er knapp, bevor er Bokan herumriss und am Ufer hinter Kenjin her preschte.

      Ishira verkrampfte die Finger um Leshas Zügel, während sie mit wachsender Panik beobachtete, wie Kenjin immer weiter abgetrieben wurde. Endlich bekam ihr Bruder einen Felsvorsprung zu fassen und klammerte sich daran fest. Sobald er Halt gefunden hatte, schaffte er es, festen Grund unter den Füßen zu finden und sich aufzurichten. Einen Augenblick später hatte der Kiresh ihn erreicht und zog ihn zu sich in den Sattel. Ishira stieß erleichtert die Luft aus. Der Kouran der Koshagi verfolgte die Szene mit einem abschätzigen Zug um den Mund. Offenbar war er der Meinung, der Kiresh mache zu viel Aufhebens um einen Sklaven, Geisel hin oder her.

      Einige der Raikari waren derweil zu dem verunglückten Wagen geeilt, dessen linkes Rad sich nutzlos in der Luft drehte, und halfen dem Kutscher, die beiden Umasus auszuspannen, von denen das eine halb auf das andere gefallen war und in seinem Schmerz wild auskeilte. Der Amanori war glücklicherweise wieder in den Wolken verschwunden. Das Prickeln in Ishiras Haarwurzeln verebbte. Fürs erste war die Bedrohung vorüber.

      Sobald Kiresh Yaren seinen Hengst neben ihr zum Stehen gebracht hatte, sprang Ishira aus dem Sattel und fing Kenjin auf, der sich ungeschickt von Bokans Rücken gleiten ließ. Sie schloss ihren triefenden und vor Kälte schlotternden Bruder in die Arme, obwohl sie dabei selbst pitschnass wurde. „Bin ich froh, dass dir nichts passiert ist!“

      Kenjin hustete. „Glück gehabt. An Land hätte ich mir mit diesen verdammten Fesseln wahrscheinlich sämtliche Knochen gebrochen.“

      „Welch rührende Szene“, höhnte Magur. „Aber hättest du wohl die Güte uns mitzuteilen, ob sich in der Nähe noch weitere Drachen herumtreiben?“

      Ishira zuckte zusammen. „Der Amanori war allein, Deiro.“

      „Und das weißt du weshalb so genau?“

      Sie fühlte Frustration in sich aufsteigen. Wieso wollte er ihr nicht glauben? „Ich spüre keine andere Präsenz.“

      „Bleibt in jedem Fall wachsam!“ befahl der Bashohon. „Wir wissen nicht, was die verdammten Echsen als nächstes planen. – Glaubt Ihr, das Auftauchen des Drachen eben war Zufall?“ wandte er sich an Kiresh Yaren.

      „Kaum“, erwiderte dieser. „Dafür war der Zeitpunkt zu gut gewählt. Ab jetzt sollten wir jederzeit mit einem Angriff rechnen.“

      Beruk nickte. „Ganz Eurer Meinung.“

      Der Kouran der Raikari bedachte Ishira mit einem nachdenklichen Blick. „Also ist ihre Gabe nicht nur Gerede.“

      „So scheint es“, stimmte der Bashohon widerwillig zu. „Wenigstens haben wir sie und den Jungen nicht umsonst am Hals.“

      „Was sollen wir mit dem Wagen machen?“ erkundigte sich der Kiresh, der ihn gelenkt hatte. Die Umasus waren inzwischen ausgeschirrt und standen zitternd und mit tropfendem Fell am Ufer. Eines der Tiere hatte eine blutende Schramme am Bein, doch ansonsten sahen sie unversehrt aus.

      Beruk warf einen kurzen Blick auf den kaputten Munitionswagen. „Lasst ihn, wo er ist. Er ist ohnehin nicht mehr zu gebrauchen. Räumt ihn nur so weit zur Seite, dass die übrigen Wagen den Bachlauf passieren können. Falls auf den anderen Munitionswagen noch Platz ist, bergt die Steinkugeln und verteilt sie. Aber überladet die Wagen nicht!“

      Der Krieger gab den Raikari an seiner Seite ein Zeichen, ihm dabei zu helfen, die gebrochene Deichsel, die über die Rampe ragte, aus dem Weg zu schieben und die Steinkugeln aus dem Bach zu klauben.

      Kenjin zitterte inzwischen so heftig, dass seine Zähne aufeinanderschlugen.

      „Zieh die nassen Sachen aus, sonst erkältest du dich“, ermahnte ihn Ishira.

      Ihr Bruder schob die gefesselten Hände unter seine Tunika und nestelte an den Bändern seiner Hose. Sie half ihm dabei, die Beinkleider abzustreifen, die sich mit einem schmatzenden Geräusch von seiner Haut lösten. Dann zog sie ihm Hemd und Tunika über Kopf und Schultern, soweit die Fesseln es erlaubten. „Warte, ich gebe dir meinen Umhang.“ Sie zog den Überwurf von ihren Schultern, ohne auf Kenjins Protest zu achten. Kaum hatte sie ihm das Kleidungsstück um die Schultern gelegt, als der Bashohon ihm barsch befahl, auf einen der anderen Munitionswagen zu klettern, die inzwischen den Bach überquert hatten. Ihr Bruder beeilte sich, der Order nachzukommen. Sobald alle Wagen den Bach überquert hatten, gab Beruk den Befehl zum Weitermarsch.

      Der Zedernwald wurde dichter, auch wenn die Bäume noch immer weit genug auseinanderstanden, um mit den Wagen hindurch zu fahren. Der Boden federte unter den Hufen der Pferde nach. Er war bedeckt mit leuchtendem Moos in mannigfachen Grüntönen und Zedernnadeln vergangener Winter. In den Zweigen sangen Vögel und einmal sah Ishira weit entfernt eine schattenhafte Gestalt von einem Baum