Koban sah aus, als läge ihm eine bissige Bemerkung auf der Zunge, doch er war klug genug zu schweigen und sich darauf zu konzentrieren, die Durchzeichnung eilends fertigzustellen, bevor Helon sie zurückbefahl.
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An diesem Abend schlugen sie das Lager am Rande des Hochtals auf, von dem Kiresh Yaren gesprochen hatte. Es war ein baumloses sattgrünes Tal mit sanft gewellten Wiesen, in dem hier und da Felsen verstreut lagen. Durch die letzten Baumstämme hindurch sah Ishira bunte Frühlingsblumen leuchten. In einiger Entfernung äste eine Gruppe Weißstreifenrehe, die aufgeschreckt davon sprangen, als ihnen die Witterung der Menschen in die Nüstern stieg. Die Gohari hielten sich am Saum des Waldes und nutzten den Schutz, den ihnen das dunkle Grün der Zedern über ihren Köpfen bot. Ishira ging davon aus, dass ihr Begleiter ihr das Abendessen wie gewohnt ins Zelt bringen würde, doch er überraschte sie mit der Aufforderung, ihn zum Feuer der Anführer zu begleiten. „Helon wünscht deine Anwesenheit“, erklärte er. „Wie es aussieht, ist Mebilor nicht der Einzige, der an deiner Musik einen Narren gefressen hat.“ Während er sprach, fuhr er sich mit einer ergeben wirkenden Geste durch die Haare, wobei sich einige Strähnen aus seinem Zopf lösten.
„Euch scheint sie nicht zu gefallen“ rutschte es Ishira heraus, obwohl es kindisch war, deswegen gekränkt zu sein.
Ihr Begleiter wandte das Gesicht ab. „Doch, sie gefällt mir“, widersprach er stockend. „Es ist nur…“ Er holte Luft. „Die Musik ruft etwas wach, das ich lieber schlafen lassen würde.“
Plötzlich kam sie sich unglaublich töricht vor. Er trauerte noch immer um Rondars Tochter und die Musik erinnerte ihn an sie. „Es tut mir leid“, murmelte sie.
Er zuckte mit den Schultern, als wollte er das Gespräch abschütteln. „Nicht deine Schuld.“
Am Feuer war eine lebhafte Diskussion im Gange. Koban hatte das Pergament mit der kopierten Inschrift des Steins auf dem Schoß ausgebreitet und studierte sie gemeinsam mit Garulan und einigen anderen, zu denen auch Rohin und Mebilor gehörten.
Der Heiler winkte Ishira zu sich. „Du kommst gerade richtig“, sagte er gut gelaunt. „Immerhin haben wir diese Entdeckung dir zu verdanken.“
Ishira trat zögernd näher, halb in der Erwartung, von einem der anderen Telani böse Blicke zu ernten. Doch sie waren alle zu versunken in die Inschrift, um auch nur aufzublicken.
„Eine alte Form der inagischen Sprache, Koban?“ setzte einer der Gelehrten, dessen Namen Ishira nicht kannte, das zuvor unterbrochene Gespräch fort. „Auf wann datiert Ihr diese Inschrift?“
„Schwer zu sagen. Lange, bevor wir einen Fuß auf die Insel gesetzt haben. Fünfhundert Jahre, tausend – alles ist möglich. Bedauerlich, dass wir den Stein selbst nicht mitnehmen konnten, um ihn genauer zu untersuchen.“
„Könnt Ihr die Inschrift entziffern?“ fragte Rohin.
„Nun ja, aus dem zu schließen, was ich verstanden habe, scheint es sich weniger um einen Grenzstein zu handeln als um eine Entfernungsangabe, eine Art Wegweiser. Aber es ist alles sehr vage. Einige der Zeichen haben nur entfernt Ähnlichkeit mit den mir bekannten und der größte Teil der Inschrift ist im Laufe der Zeit so verwittert, dass er kaum noch zu lesen ist. Bei dem Wort unter dem Wappen handelt es sich vermutlich um den Ortsnamen: Yokariyara oder so ähnlich. Die Endung weist auf ein Heiligtum hin – wie bei Inuyara, das sich mit ‚Heiligtum am Meer‘ übersetzten lässt. Auf jeden Fall war es ein Ort mit einer gewissen Bedeutung, wenn er über ein eigenes Wappen verfügte und auf diese Weise ausgeschildert war. Es lässt sich allerdings nicht mehr erkennen, ob der Stein ins Landesinnere weist oder in die Richtung, aus der wir kommen.“
„Gewiss doch wohl Letzteres“, schaltete sich Garulan ein. „Auch wenn die alten Inagiri mit den Drachen auf besserem Fuß standen als wir heute, werden sie kaum in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft gesiedelt haben.“
„Aber wenn jemand in umgekehrter Richtung auf dieser Straße unterwegs war, bedeutet das ebenfalls, dass es bis weit ins Inselinnere hinein besiedelte Gebiete gegeben haben muss“, hielt Rohin dagegen.
Die anderen schwiegen, während sie darüber nachdachten. Ishira wusste nicht, worüber sie mehr erstaunt sein sollte: dass die alten Inagiri sich so tief ins Territorium der Amanori hinein gewagt hatten oder dass Koban und andere Telani die inagische Schrift und Sprache erlernt hatten. Es versetzte ihr einen Stich, dass ein Gohari die Schrift ihrer Vorfahren beherrschte, wohingegen die heute lebenden Inagiri nicht einmal ihren eigenen Namen schreiben konnten. Doch ein Teil von ihr war auch froh darüber, dass Inagis Vergangenheit auf diese Weise nicht ganz verloren war. Solange irgendjemand die alte Schrift kannte, konnten die Inagiri sie zurückgewinnen.
„Habt Ihr schon einmal von diesem Ort gehört?“ fragte Mebilor.
Koban schüttelte den Kopf. „Die Bibliothek in Inuyara ging während des Kampfes um die Stadt in Flammen auf. Fast alle Schriftstücke wurden vom Feuer vernichtet, so dass wir über die Vergangenheit Inagis nur sehr bruchstückhafte Kenntnisse besitzen.“
„Möglicherweise haben die Inagiri damals im Innern der Insel einen Schrein errichtet, um den Drachen zu opfern und sie zu besänftigen“, schlug Rohin vor.
„Das wäre eine Möglichkeit“, stimmte Koban zu. „Wenn wir Glück haben, stoßen wir vielleicht auf Reste dieses Ortes und finden dort eine Erklärung.“
Am Nachbarfeuer, an dem sich eine Handvoll Kireshi den Abend mit einem Würfelspiel vertrieb, wurden Stimmen laut. Soweit Ishira mitbekommen hatte, musste der Verlierer einer Runde irgendetwas tun, um die Übrigen zu unterhalten. Wahrscheinlich war das die Art von Soldaten, mit der Anspannung, nie zu wissen, ob sie den folgenden Tag überleben würden, umzugehen. Ishira beobachtete, wie einer der Männer aufstand und zu den Raikari hinüber ging. Entweder war das sein Tribut als Verlierer oder er hatte es sich in den Kopf gesetzt, die Söldner dazu zu bringen, sich an dem Spiel zu beteiligen. Diese reagierten auf seine Überredungsversuche, wie sie auf alle Annäherungen reagierten: mit unbeteiligtem Schweigen.
„Ihr haltet euch wohl für etwas Besseres, was?“ fragte der Krieger gereizt, als die Söldner, die er angesprochen hatte, ihm weiterhin stoisch den Rücken zukehrten. Die Worte klangen leicht verwaschen und verrieten, dass der Mann nicht mehr ganz nüchtern war. „Gehört es auch zu euren Regeln, andere zu ignorieren? Aber eines sage ich euch: ich traue euch nicht über den Weg und viele meiner Kameraden auch nicht. Wer sein Gesicht hinter einer Maske verbirgt, hat noch mehr zu verbergen. Gelübde? Dass ich nicht lache!“
Seine Worte hallten laut durch die plötzliche Stille. Selbst die Diskussion der Telani war abgebrochen. Um Helons Mund zuckte es unwillig. Er schien zu überlegen, ob er einschreiten sollte, doch dann beschloss er offenbar abzuwarten, ob die Raikari die Angelegenheit selbst regeln würden.
Einer der Söldner stand schließlich auf. Nur anhand der Zierelemente auf seiner Rüstung erkannte Ishira ihn als deren Anführer. Der Kouran trat auf den Kiresh zu, der immer noch mit gespreizten Beinen an Ort und Stelle stand, unschlüssig, was er als nächstes tun sollte. Im Flammenschein hätte man meinen können, Ralans Maske würde sich zornig verziehen, doch seine Stimme klang vollkommen unbewegt. „Ihr solltet Eure Worte umsichtiger wählen. Indem Ihr andere beleidigt, erreicht Ihr eher das Gegenteil dessen, was Ihr beabsichtigt. Seid jedoch versichert, dass unser Ziel dasselbe ist: genau wie Ihr sind wir hier, um gegen die Drachen zu kämpfen. Meine Männer ziehen es allerdings vor, unter sich zu bleiben, und ich erwarte von Euch wie von allen anderen hier, dass Ihr diesen Wunsch respektiert.“
Der Kiresh machte ein Gesicht, als wollte er seinem Unmut noch weiter Luft machen, doch dann ging ihm auf, wen er vor sich hatte. Er presste den Kiefer zusammen, deutete eine Verbeugung an, die in ihrer Knappheit selbst an eine Beleidigung grenzte, und machte auf dem Absatz kehrt. „Verfluchte Söldner“, murrte er. „Führen sich auf, als wären sie die Palastgarde.“
Falls Ralan diesen Kommentar ebenfalls gehört hatte, reagierte er nicht darauf. Er sah dem Mann nur noch einen Augenblick nach, bevor er wieder am Feuer Platz nahm.
„Mit so