Das Versteck des Schlüssels für den Weinkeller kannte er. Nun holte er den Schlüssel und sperrte auf, den Hasen unter seinem Arm. Die alte Eichentür quietschte, während er sich bückte, um in den niedrigen Raum einzutreten. Drinnen roch es muffig. In dem uralten von Holzwürmern zerfressenen Gebälk krachte die alte Tramdecke. Ihm kam es jedes Mal vor, als ob die Urahnen hier hausten, alles beobachteten und belauschten und ein Zeichen ihrer Anwesenheit gaben.
Hier war die Zeit vor Jahrzehnten stehen geblieben und es schien, als würden die Vorfahren gespensterhaft durch die offenen Ritzen des alten Gebälks lugen, ob ihr Platz noch immer unverändert auf sie wartete. Wie oft, wenn sich das viele Ungeziefer im uralten Holzbau geräuschvoll bemerkbar machte und der Wein die Sinne der Menschen vernebelte, erschrak der eine oder andere und fühlte sich durch die verstorbenen Seelen seiner Vorfahren als Sünder beobachtet und enttarnt.
An der Wand hing ein von seiner älteren Schwester Maria, welche alle Ritsch nannten, mit blauen Schlingstichen ausgenähtes Deckerl. Darauf stand: „Die Ruhe ist dem Menschen heilig, nur der Närrische hatʼs eilig.“
Wie oft waren seine Eltern mit den Kindern hier im ersten Zimmer des Weinkellers gesessen, um nach der Arbeit zu rasten oder zu diskutieren. Hier standen ein kleiner Transportierofen, ein altes Bett mit einem Strohsack, ein Tisch und eine Bank zum Sitzen, im zweiten, finsteren Raum, dem Pressraum, waren die Weinpresse, der Rebler, ein Trog, ein Amper (Kübel) die schweren Eichenfässer voll Wein und sonstiges Zubehör untergebracht.
Ein paar Uhudler-Trauben waren auf einer mit Draht aufgehängten Stange aufgefädelt, welche seine Mutter für Strudelfüllen getrocknet hatte. Er zupfte sich von den aufgehängten Weintrauben ein paar Kerne herunter, holte sich mit dem Weinheber ein Glas Wein aus dem Fass, setzte sich im vorderen Zimmer nieder und schaute aus dem kleinen Fenster, während er sich eine Zigarette anzündete. Jetzt erinnerte er sich, wie eine verwirrte, alte Frau vor langer Zeit sich in dieses kleine Fenster zu ihrem Weinkeller gequetscht hatte und stecken geblieben war. Sie war dement und schrie nach Leibeskräften immer nur „Amerika, Amerika“ bis sie gefunden und gerettet worden war.
Karl zündete das verrußte Petroleumlämpchen an und der schwache Schein erfüllte den Raum spärlich mit Licht.
Sogleich roch er den unangenehmen Petroleumgeruch, während die Russkäfer und Wanzen hervorkrochen und Schatten warfen.
Jetzt bemerkte Karl, dass der Transportierofen noch warm war. Es musste erst kurz vorher von seiner Familie jemand hier gewesen sein. Wahrscheinlich waren sie mit dem Rebschnitt beschäftigt und rasteten wie immer nachher im Keller bei einem Glas Uhudler-Wein, oder es war ein Weingartennachbar mit einer Flasche Uhudler zum Tratschen hierhergekommen und sie hatten den Ofen geheizt und waren dann zum Füttern der Tiere heimgegangen.
Karl blies in die Gliacht (Glut) und sogleich loderten die Flammen wie Zünglein hoch. Bald legte er Holzscheite nach und das Feuer knisterte und ergab eine behagliche, wohlige Wärme.
Im Backrohr sah er eine gebratene, gut duftende Krumpern (Kartoffel) liegen und sogleich meldete sich sein knurrender Magen zurück.
Als Karl die warme Krumpern in seiner Hand betrachtete, kam ihm in Erinnerung, wie oft er zuhause mit den hungrigen, amerklekerischen (lusterischen) Geschwistern um die letzten heißen Krumpern gestritten und gerauft hatte und wie oft sie aus dem Futterdämpfer, in welchem die Krumpern für die Schweine gekocht wurden, welche gestohlen hatten. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen und sogleich verschlang er gierig die Kartoffel als wäre sie ein Festessen.
Wie oft war Viktor Ertl mit seinen Kumpeln (Kameraden) hier gesessen und hatte über die alltäglichen Arbeiten in der Landwirtschaft, das wirtschaftliche Fortkommen, das Anbauen und Gedeihen der Saat, der gefechsten (geernteten) Naturalien, die schlechte Wirtschaftslage, Armut und die große Arbeitslosigkeit dischkuriert (diskutiert).
Karl erinnerte sich an seine Kindheit. Die Not hatte sich in der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre, ausgelöst durch den Börsencrash in New York, klammheimlich wie eine giftige Natter in jedes Haus geschlichen, sodass alle zum äußersten Sparen gezwungen waren. Durch die Weltwirtschaftskrise konnten die Bauern ihre Produkte infolge der mangelnden Kaufkraft nicht kostendeckend absetzen. Die Arbeitslosigkeit, Inflation und Verschuldung vieler Bauern verschärften die finanziellen Probleme. Die hohen Kreditzinsen führten viele Bauern in den Ruin. Auch die Eltern von Karl hatten Schulden.
Durch den plötzlichen und unerwarteten Tod seines Vaters musste Karls Vater Viktor Ertl in jungen Jahren den Hof übernehmen und jedem seiner fünf minderjährigen Geschwister laut der gerichtlich angeordneten Schätzung der Landwirtschaft Erbteilsforderungen im Gegenwert von je sechs Kühen auszahlen. Den Betrag musste er teilweise beim Gericht hinterlegen und der ganze Betrag wurde im Grundbuch einverleibt, was ihm arge finanzielle Probleme bereitete und ihn in arge Zahlungsschwierigkeiten drängte. Die Zwangsversteigerung drohte.
Die Landwirtschaft von Karls Eltern zählte, wie die meisten Landwirtschaften im Dorf, zu den kleinen Landwirtschaften mit vielen hungrigen Kindern. Diese kleinen Landwirtschaften konnten die kinderreichen Familien schlecht ernähren und die Mütter hatten viel Mühe, ihre zahlreichen Kinder satt zu bekommen. Im Haus wurde das Brot eingesperrt. Wie oft bekamen die Kinder Schimpfer, wenn sie unerlaubt, hungrig, das warme Brot, das sich noch mugelte (zu heiss war), anschnitten, noch dazu ohne wie es üblich war drei Kreuzzeichen vor dem Anschneiden auf den Laib Brot zu machen. Und wie oft mussten die Kinder zur Strafe auf spitzen Holzscheiten knien und beten.
Deshalb gingen Karl und sein älterer Bruder Toni sowie alle anderen Kinder, angefangen im Alter von neun Jahren, in den Dienst zu größeren Bauern im gleichen Dorf oder in andere Dörfer, um sich selbst zu versorgen. Die Kinder gingen vom März bis Oktober die meiste Zeit bloßfüßert (barfuß). Im Dienst gingen sie in den dortigen Schulen nur sporadisch in die Schule, da sie vorwiegend arbeiten mussten bzw. in der kalten Jahreszeit keine Schuhe und warme Kleidung hatten, um in die Schule zu gehen.
Bei den wenigen Besuchen zuhause beschwerten sich Karl und Toni über die schwere Arbeit, wenn sie voller Läuse und Flöhe von den Ställen ihrer Dienstgeber vom Dienst heimkamen. Aber ihr Vater erklärte nur, es würde ihnen nicht schaden, arbeiten zu lernen.
Im nächsten Moment fiel Karls Blick auf den Kroatnwitschker (Messer), welcher Toni, seinem ältesten Bruder, gehörte. Wie oft hatten sie damit als Kinder aus Holz Spielzeug, Pfeile und Werkzeuge geschnitzt.
Toni hatte den Kroatnwitschker hier das letzte Mal vor seinem Weggehen dafür verwendet, dass er für jede Butte voller Weintrauben bei der Weintraubenernte in einen abgeschälten Holzstab eine Kerbung eingeschnitten hatte als Kontrolle der besseren oder schlechteren Ernte gegenüber dem Vorjahr.
Karl sah Toni förmlich vor sich, als er damals beim Abschluss der Weintraubenernte einen Juizer (Juchzer) ausstieß aus Freude für die gute Ernte, so wie er es nach jeder Ernte beim Leukauf (kleine Feier) tat.
Und augenblicklich schweiften Karls Gedanken ab an seine glückliche Kindheit mit Toni, als wären die markanten Vorfälle gestern passiert und hätte dieser Raum für immer die Erlebnisse konserviert, während er sich kurz auf den knisternden Strohsack des Bettes legte. Er bemerkte bald, dass der Strohsack nicht mit Stroh, sondern mit getrockneten, zerkleinerten Kukuruzblättern gefüllt war.
Mit Toni teilte Karl seit Kindesbeinen viele Geheimnisse, mit ihm rauchte er seine erste selbst gewuzelte (gedrehte) Zigarette aus Tabak vom eigenen Anbau, wobei sie den Tabak mit Kukuruzstroh streckten, da der Tabak allein scheußlich schmeckte. Das Gemisch von Tabak und Kukuruzstroh trug Toni immer griffbereit in einer getrockneten Saublatter (Blase des Schweines) um den Körper gebunden. Mit den Zeitungsblättern des Stürmers wuzelten (drehten) sie sich die Zigaretten selber.
Jedes Mal bei der Weinlese half der Herr Lehrer Lorenz Schmid als Gegenleistung für den Sautanz und sonstige Naturalien. Schwitzend und keuchend trug er mit einer