Bei sich selbst dachte er nur, ‚Wir sind alle erbärmliche Feiglinge, skrupellose, angepasste Feiglinge!‘ Bekker neigte zu Exzessen. Tatsächlich hatte er permanente Motivationsprobleme und kämpfte mit lang anhaltenden Phasen tiefer Resignation, mit Wut, Verzweiflung und Depression. Laut und mit einem freundlichen Lächeln wandte er sich abschließend ans Auditorium,
„Meine erste Intensiv-Visite beginnt in der Regel täglich um sechs Uhr morgens. Sie wissen ja, wo unser Krankenhaus steht und sind jederzeit herzlich eingeladen. Sie müssen sich nicht einmal anmelden.“ Das konnte er leicht versprechen, denn es kam eh selten jemand.
„Ach ja“, der Hörsaal befand sich bereits in Auflösung, dennoch blieben die meisten stehen und wandten sich um. Einige wussten, was jetzt kam, „Kennen Sie den Unterschied zwischen einem Arzt und Gott? Nein? Nun, Gott bildet sich nicht ein, Arzt zu sein. Schönen Tag noch!“ Die Vorlesung war beendet.
*
Frey hatte alles im Griff. Er blieb hinter der Studentin, wobei er darauf achtete, Körperkontakt zu vermeiden. Sie machte Anstalten abzutauchen, in der Hoffnung, er würde auch die Intubation übernehmen.
„Hiergeblieben!“, fürsorglich, „also noch einmal mit Gefühl, Zunge aufladen, gut! Jetzt gleichzeitig heben und hebeln, gut. Versuche den Burschen mit dem Spatel hochzuheben, nicht zu viel Druck auf die Jacketkronen, gut. Was sehen wir? Wie heißt dieser Zipfel, der die Sicht versperrt? Epiglottis, bingo! Alles bestens.“ Er senkte den Tonfall. Das junge Mädchen schwitzte und zitterte. Der Einsatz des Intubationsspatels erfordert gelegentlich Kraft, die sie zunehmend verließ. Frey hatte Erbarmen. Er griff zu, die Stimmritze war nun gut zu sehen und weit offen, die Stimmbänder vollkommen erschlafft.
„Spaß muss sein, sprach Wallenstein.“ Sein Tonfall war unschuldig. Das übliche ‚und schob die Eier mit hinein‘ verkniff er sich heute. Geschafft! Sein Blick streifte die Uhr. Fast vierzig Minuten Verzögerung. Die Operateure würden begeistert sein. Bekker auch!
3. Kapitel
Städtisches Klinikum
„Der Chef ist da!“ Es war fünf Uhr fünfzig. Bekker stand in grüner OP-Kleidung auf dem Flur der Intensivstation und ließ wie jeden Morgen den Blick über Schränke und Boxenwände streifen, während er auf den diensthabenden Arzt wartete. Kein Fleck, keine schiefe Tür würden ihm entgehen.
„Guten Morgen, Herr Professor.“ Melanie Müller, Assistentin im dritten Ausbildungsjahr, trat ihm stets mit einem Anflug von Erröten entgegen. Sie roch frisch geduscht, was Bekker als angenehm empfand. Er gab ihr die Hand, verlor aber keine Begrüßungsfloskeln. Aus der Umkleide kam eine junge Frau mit kurzen blonden Haaren, ebenfalls in OP-Kleidung. Sie war offensichtlich sehr schlank, denn das grüne Oberteil warf Falten und hing auf einer Seite über ihre Schulter, sodass der Träger eines weißen BHs sichtbar wurde. Sie hatte ein puppenhaftes, dezent geschminktes Gesicht mit einer kleinen aufwärts gerichteten Nase, um die sich reichlich hellbraune Sommersprossen versammelt hatten.
„Entschuldigen Sie, Herr Professor, ich bin leider zu spät“, sagte sie und reichte Bekker eine schmale, kühle Hand.
„Zu spät wofür?“ fragte er belustigt zurück, denn er konnte sie nicht einordnen, hielt ihre Hand aber ein bisschen länger fest als nötig.
„Oh Verzeihung“, sie wurde rot. ‚Süß‘, dachte Bekker. „Mein Name ist Stefanie Kahle. Ich bin Studentin im Praktischen Jahr mit Wahlfach Anästhesie. Ich hatte mich noch nicht vorgestellt. Sie waren Freitag nicht da, und ...“.
„Kein Problem“, sagte Bekker. Er legte keinen Wert auf Formalitäten. „Schön, wenn die Anästhesie mit so hübschen Menschen aufgefrischt wird.“ Im selben Moment wurde er sich seiner Taktlosigkeit gegenüber der anderen jungen Frau bewusst, „wie sie beide“, ergänzte er schnell. Die Müller warf ihm einen schrägen Blick zu. Sie war alles andere als eine Schönheit. Eher etwas bott, wie man hier gerne sagte, um stabile Staturen freundlich zu umschreiben. Dennoch war sie eine interessante Erscheinung mit einem slawischen Gesicht, das von langen, glatten schwarzen Haaren eingerahmt wurde und das ein großer roter Mund dominierte. Bekker fand sie sexy. Jetzt legte er freundlich den Arm um ihre Schulter, um sie in die Richtung der ersten Patientenbox zu dirigieren.
„Also Melanie, dann woll’n wir mal.“ Das war keine Vertraulichkeit; es hieß soviel wie ‚Wir ziehen an einem Strang. Ich steh’ nur zufällig hier. Du bist genauso wichtig.‘
„Die Kollegin hat heute ihren ersten Tag in der Anästhesie, also wollen wir es ihr nicht so schwer machen, oder?“ Normalerweise schätzte Bekker den exakten, knappen, klar strukturierten Vortrag. Alle Mitarbeiter wussten das, und die Diensthabenden bereiteten die Visite entsprechend vor. Jetzt hieß es, Umschalten auf Unterrichtsstil.
Melanie Müller war genervt. Sie hatte gehofft, die Visite mit dem Chef schnell abzuwickeln, damit sie mit den Schwestern der Nachtschicht noch gemütlich frühstücken konnte. Jetzt musste sie für dieses dürre Huhn lange Erklärungen abgeben. Bekkers Blick beim Auftauchen der Studentin war ihr nicht entgangen.
„Patient Seeger“, startete sie lustlos, „männlich“ – ‚ach nee‘, dachte Bekker belustigt –, „dreiundsechzig Jahre, Zustand nach abdominellem Aortenaneurysma bis in die Leisten, erster postoperativer Tag nach Anlage eine Y-Prothese auf die beiden Iliacae. Wissen sie, worum es geht?“ Sie hatte sich der Studentin barsch zugewendet, doch plötzlich lächelte sie. Es half ja nichts. Man konnte die jungen Leute nicht immer wie Falschgeld behandeln. Jeder hatte mal angefangen und war dann über vernünftige Erklärungen und Erläuterungen froh gewesen. Letztlich profitierten die Patienten davon.
„Nicht genau“, kam die zögerliche Erwiderung. Die Assistentin blickte zu Bekker, der kurz nickte.
„Der Patient leidet seit Jahren an einer zunehmenden Erweiterung der Bauchschlagader, Aorta. Diese Aussackung nennt man Aneurysma. Irgendeine Idee, wie so etwas entsteht?“ Bekker schmunzelte; das war eine exakte Kopie seines Stils. Er hielt nichts vom Dozieren und Belehren, sondern gestaltete seinen Studentenunterricht stets als Frage-und-Antwort-Spiel.
Der Mensch behält nur das im Gedächtnis, was er sich selbst erarbeitet hat; jedenfalls war das Bekkers Meinung.
„Na ja, zum Beispiel bei Bluthochdruck, Diabetes mellitus, Nikotingenusskommt es zu degenerativen Veränderungen der Gefäße. Ein Aneurysma entsteht über Jahre als eine Aussackung mit dünnen Wänden, an denen zunehmend Kalk und Gerinnsel abgelagert werden.“
„Stimmt genau“, Melanie Müller nickte anerkennend und fuhr fort.
„Risikofaktoren bei diesem Patienten sind Bluthochdruck, seit zwanzig Jahren bekannt, mehr oder weniger adäquat eingestellt bei mäßiger Compliance des Patienten, Nikotin seit über fünfundvierzig Jahren, mehr als zwanzig Zigaretten täglich – gibt er zu.“ Zu Deutsch hieß das, es sind wesentlich mehr.
„Ansonsten das Übliche, wie bei allen Gefäßwracks.“ Das war nun sehr salopp, was Bekker gar nicht schätzte, aber er ließ es durchgehen.
„Fein“, sagte Bekker. ‚Bis hier‘, hieß das, aber auch, ‚Okay ‘. Klar war, dass nun der akute Verlauf gefragt war.
„Intraoperativ einige Male eingeschränkte Pumpleistung des Herzens, vor allem während des zentralen Clampings“, sie unterbrach wegen des fragenden Blicks der Studentin. „Clamping, zu Deutsch Klemmen, ist das Abklemmen der Aorta oberhalb des Aneurysmas, also zwischen Herz und der krankhaften Gefäßerweiterung. Dadurch erhöht sich der Widerstand, den das Herz überwinden muss, um Blut in die untere Körperhälfte zu befördern.“ Mit Blick auf die Studentin, „Ist denn während des Abklemmens überhaupt noch eine Durchblutung nach unten zu erwarten?“
„Es gibt normalerweise genügend Umgehungskreisläufe