Das Hospital. Benno von Bormann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Benno von Bormann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738094824
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halt. Mit der Schelte durch Medizinfunktionäre lebte er gut. Er empfand sie als Kompliment. Kassenärztliche Vereinigungen, Ärztekammern, Berufsverbände und die vielen Gesellschaften für dies und das und jenes waren für ihn Auffangbecken des Mittelmaßes, Einrichtungen für Wichtigtuer und ‚ausgelernte Arbeitslose‘, wie er das nannte, und an Überflüssigkeit nicht zu überbieten.

      „So nimmt das Drama seinen Lauf. Die alte Frau, die da verängstigt, frierend und halb nackt auf der Trage liegt, ist zwar durchaus bei Sinnen, versucht auch ein paar Mal sich zu äußern, wird aber nicht gefragt. Was sie möchte oder nicht, was sie empfindet, ja selbst wie’s ihr geht, subjektiv!, interessiert kein Schwein. Pardon! Eine bühnenreife Szene, wenn’s nicht so traurig wäre.

      Es folgen der übliche Röntgenmarathon, und wenn die Patientin dann immer noch lebt, auch noch die Anfertigung von EKG, Herzecho und allerlei anderem Blödsinn. Parallel dazu werden aus dem bisschen Kreislauf, der ihr noch geblieben ist, Batterien von Blutröhrchen befüllt. Bis das Opfer bleich ist wie die Wand, um im Labor eine weitgehend irrelevante Analyseorgie abzuhalten. Versteht sich, dass von den zirka einhundert Parametern maximal zehn wichtig sind. Den Rest guckt sich eh niemand an. Schließlich geht’s mit Karacho in den OP.

      Der Rest ist bekannt. Dank einer hochwertigen Anästhesie überlebt das arme entrechtete Wurm auch die exzessivste chirurgische Ausweidung und landet, versehen mit tausend Schläuchen und Kathetern, auf der Intensivstation, vor deren Pforten schon die tränenfeuchte Verwandtschaft lauert, die ihre alte Oma nur noch von Bildern kennt.“

      Er holte Luft, um etwas Zeit zu schinden, denn dieses Thema ging ihm ehrlich nah.

      „Ich bin da sicher nicht gerecht und nicht objektiv, zugegeben, und es sind nicht alle gleich, Gott sei Dank! Aber gerade solche, die sich jahrelang um einen alten Angehörigen nicht gekümmert haben, verlangen nun, ‚alles zu tun, was in ihrer Macht steht, Herr Doktor‘, und halten ihre nassen Taschentücher in der Hand.“ Bekker lächelte ins Publikum, und es war ein böses, freudloses Lächeln.

      „Alles zu tun, was in unserer Macht steht, heißt für unsere Oma de facto, dass wir ungefragt nicht nur ihr Leben, sondern auch ihr Leiden verlängern, denn was ein Mensch wirklich erlebt, was er tatsächlich mitbekommt, sei er mit Schmerz- und Beruhigungsmitteln abgefüllt bis zur Halskrause, wissen wir nicht.“ Bekker schlug aufs Pult.

      „Wir wissen es nicht und wir werden es nie wissen, denn das wäre göttlich, und nichts ist von Gott weiter entfernt als der Mensch. Sie erinnern sich, ‚Jedoch der schrecklichste der Schrecken, das ist der Mensch in seinem Wahn.‘ Diese Zeile wird ihnen eines Tages nicht mehr aus dem Kopf gehen, sollten sie als Arzt einmal auf einer Intensivstation landen. Zurück zu unserem Fall. Diese fiktive, aber typische Patientin hatte von Anfang an keine Chance zu überleben, vom Erreichen einer adäquaten Lebensqualität will ich gar nicht reden, wobei wir eigentlich gerade darüber reden müssten. Ethik – Sie erinnern sich!“ Gemurmel im Auditorium.

      „Nun gut, die Patientin. Mit unserer Hilfe wird sie noch viele Tage oder Wochen am Leben sein, ohne je das Bewusstsein zu erlangen, ohne je lächeln zu dürfen oder zu weinen, ohne uns je für das, was wir ihr antun, zur Rechenschaft ziehen zu können, ohne je fragen zu dürfen, ‚Was macht Ihr mit mir? Warum?‘ All das verwehren wir ihr, die wir so gern von Ethik sprechen.“

      Bekker achtete darauf sich nicht fortreißen zu lassen. Er war nicht auf der Kanzel, und sein Auditorium glaubte nur, was beweisbar oder schlüssig war. Daher schaltete er um und kam zum Kern der Sache zurück.

      „Tut mir leid, wenn ich den einen oder anderen von Ihnen desillusionieren sollte, aber ich kann das Lied vom unermüdlichen, barmherzigen Samariter nicht singen. Den aufopferungsvollen und engagierten Einsatz der Schwestern, Pfleger und Kollegen auf den Intensivstationen will ich in keinem Fall schmälern. Sie sind aller Ehren wert und werden dafür von Gesellschaft und Politik im Stich gelassen und bei Problemen, welcher Art auch immer, in den Regen gestellt. Das ist jedoch nicht mein Thema. Sie fragen, warum ich das alles mitmache, wenn ich die Dinge so kritisch sehe? Das ist eine gute, eine verdammt gute Frage, und ich kann sie weder Ihnen noch mir selbst beantworten. Ich bin der Knecht eines untauglichen Systems, aber ratlos wie wir alle. Mea culpa!“

      Seine Zuhörer, unter denen sich nicht selten ein paar Krankenschwestern und approbierte Ärzte befanden, waren sichtlich beeindruckt. Hochschullehrer pflegten eigene Schwächen und Gefühle auszuklammern. Bekkers Offenheit war ungewöhnlich.

      „Zur Ehrenrettung aller Beteiligten – es geht ja wirklich nicht nur um mich – sollten wir jedoch etwas Wesentliches nicht vergessen. Wir stehen, ebenso wie die chirurgischen Kollegen, letztlich am Ende der Kette. Die Vernunft, die Barmherzigkeit, die Ethik müssen früher einsetzen. Spätestens beim Hausarzt, aber der hat üblicherweise ...“ Bekker sprach nicht weiter, er hatte für heute genügend Fettnäpfe bestiegen.

      „Wir versuchen in engem Gespräch mit den Angehörigen, und die meisten, da möchte ich nicht falsch verstanden werden, sind zugewendet, engagiert und eine große Hilfe, dafür zu sorgen, dass solch aussichtslose Patienten nicht unnötig leiden müssen, dass Platz ist für Maß und Vernunft.“ Fragende Blicke, das war vermintes Terrain. Bekker war unbeirrt.

      „Ich spreche nicht von Sterbehilfe, weder aktiv noch passiv, denn das ist nicht mein Thema. Daran mögen sich Berufsverbände und Juristen abarbeiten. Erfolglos wie wir wissen. Was können wir tatsächlich tun? Was ist ethisch? Es sind einfache Dinge: eine gute Schmerztherapie, die sich nicht groß um Nebenwirkungen schert – Suchtpotential bei Opiaten, dass ich nicht lache!, Lagerungsmaßnahmen und eine gute Körperpflege.“

      Unsichere Blicke. „Wir sprechen hier nicht von Lidschatten, aber können Sie mir garantieren, dass ein Sterbender es nicht mitbekommt, wenn er stundenlang in der Scheiße liegt oder stinkt wie die Pest?“ Ein paar Krankenschwestern in den oberen Reihen nickten.

      „Aber mehr als alles andere brauchen diese Kranken, auch die komatösen und beatmeten, Kontakt mit Menschen. Menschen, die am Bett sitzen, freundlich und beruhigend sprechen und die Hand halten. Dies ist aus meiner Sicht von überragender Bedeutung und eine wesentliche Aufgabe für die Angehörigen eines Kranken. Auch wenn ich mich wiederhole, vergessen Sie bitte nicht, wir haben keine Ahnung, was tief sedierte oder sterbende Patienten tatsächlich mitkriegen und empfinden. Aber auch die Angehörigen selbst benötigen Zeit und Zuwendung. Sie werden das vielleicht erst dann ermessen können, wenn sie in einer vergleichbaren Situation sind, was ich Ihnen und mir nicht wünsche.“ Es war sehr still im Auditorium.

      „Niemals sollte ein Mensch alleine sterben. Ist der Fall nach allen medizinischen Kriterien aussichtslos, verständigen wir uns mit allen Beteiligten und wenn möglich, frühzeitig auf eine Begrenzung der Therapie. Das heißt im Klartext bei Verschlechterung des Zustandes alle lebensverlängernden Maßnahmen zu unterlassen. Das ist, jetzt sag‘ ich’s doch, eine humane, passive Form der Sterbehilfe, durchaus“, und um gezielten Fragen zu diesem Thema von vornherein aus dem Wege zu gehen, „Aber der juristische Aspekt interessiert mich in so einer Situation wirklich nicht!“ Er hielt kurz inne. „Wirklich nicht!“, wiederholte er mit Nachdruck. Das meinte er so und dazu stand er, das spürten alle.

      „Juristen und Ethik schließen sich gegenseitig ebenso aus wie Rechtsprechung und Recht. Hier geht es um Gewissensentscheidungen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Und zu denen gehören Mut und Menschenliebe. Mit Menschenliebe und Mut Verantwortung zu übernehmen, werden Sie in jedem Fall ein besserer Arzt, als mit den tausenden von Daten, die Sie für Ihre diversen Examina aus idiotischen Fragenkatalogen extrahieren müssen.“ Er fügte hinzu, „Es sind natürlich nicht Ihre Fragenkataloge, sondern die eines verquasten Systems; erdacht von ahnungslosen Politikern und idiotischen Funktionären, die aus dem Medizinstudium einen Kreuzworträtselwettbewerb gemacht haben.“ Bekker streckte sich und sah in die Runde.

      „Fassen wir zusammen. Wir sind mit der Intensivmedizin auf einem gefährlichen Weg, ohne dass ich ein Rezept parat hätte, wie man es grundsätzlich anders machen könnte. Der Fortschritt birgt viele Fallstricke, denn nicht alles, was machbar ist, sollte auch getan werden. Zumindest nicht bei jedem Patienten. Seien Sie wachsam und kritisch, und sehen Sie die Medizin nicht ausschließlich durch die naturwissenschaftliche Brille. Der Patient