Das Hospital. Benno von Bormann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Benno von Bormann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738094824
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um das eigene Kind handelte. Das war so. Bei Kindern waren alle, auch die Therapeuten, betroffener, sensibler, angespannter. Bekker setzte sich schräg auf die Bettkante, um systematisch zu untersuchen. Er tastete nach Resistenzen, beklopfte akribisch Areal um Areal, um Dämpfungen aufzuspüren, wo sie nicht hingehörten. Ein Brustkorb, in dem sich Flüssigkeit sammelte, hatte einen anderen Klopfschall als der mit der normalen luftgefüllten Lunge. Die linke Seite war deformiert mit bläulich verfärbten Prellmarken. Bekker konnte die Frakturen tasten. Dass Rippen gebrochen waren, ließ sich auch ohne Röntgenbild feststellen. Er stand schließlich auf und trat einen Schritt zurück, um sich noch einmal ein Bild vom gesamten Brustkorb zu machen. Die Asymmetrie durch die Deformation der linken Seite war unübersehbar.

      Er schüttelte leise den Kopf und deckte das Kind wieder zu. Regina Seelmann war inzwischen neben ihn getreten und hatte zugesehen, bis er fertig war. Sie wusste, dass ihr Chef allergrößten Wert auf eine sorgfältige körperliche Untersuchung legte. Mit den Augen, der Nase, den Ohren und den Händen. Ganz gleich, welche apparativen Daten vorlagen, sie wurden stets durch die körperliche Untersuchung ergänzt, wofür der Therapeut als einziges Instrument sein Hörrohr und ansonsten seine Sinne benötigte.

      „Nicht so gut, oder?“ Sie machte ein sorgenvolles Gesicht. Bekker starrte nachdenklich vor sich hin.

      „Übel“, sagte er nur, „ziemlich übel. Das Kind sieht aus, als wäre das Auto drübergefahren. Da werden wir uns ziemlich anstrengen müssen. Ich hoffe, die Unfallchirurgen und Chirurgen ziehen mit uns an einem Strang. Sie wissen ja, Operabilität, Strategie, Termine und so weiter. Es gibt nichts, worüber der deutsche Arzt keine Kontroverse vom Zaun bricht.“ Regina Seelmann sah ihn überrascht an. Er wirkte plötzlich so bitter, ganz ungewohnt für den Sonnyboy, als den ihn alle kannten.

      „Ich denke, dass dieses Kind auf der Intensivstation gerettet wird und nicht im OP“, sagte die Ärztin bestimmt. Das klang nicht überheblich und hatte nichts mit Wettkampfmentalität zu tun. Tatsächlich stellte Friederike Lein keine chirurgische Herausforderung dar, zumal der knöcherne Brustkorb nicht operiert werden konnte. Die Rippen mussten so verheilen, und wenn das ein bisschen schief geschah, war es für das funktionelle Ergebnis unbedeutend.

      „Auch wenn die Intensivmedizin von uns gemacht wird, werden die Unfallchirurgen alle unsere Maßnahmen argwöhnisch beäugen“, fuhr sie fort. „Ein bisschen was wissen die schließlich auch, die beiden Oberärzte sogar eine ganze Menge. Allerdings sind sie mit ihren Vorstellungen ziemlich konventionell gestrickt. Die linke Lunge ist bei dem Unfall maximal zusammengequetscht worden. Wenn wir Pech haben, wird das eine Schocklunge mit allem Drum und Dran. Wir müssen uns vor allem darauf konzentrieren, dass die andere Seite nicht nach ein paar Tagen mitzieht. Der Shunt, die Infektion, na ja, und so weiter. Die Integrität der guten Seite ist die einzige Chance für die kranke, sich langfristig zu erholen. Und nur dann überlebt das Kind, Herr Professor.“ Bekker sah sie scharf an. Sie war ungewöhnlich förmlich. Ein Zeichen für hohe Anspannung und Anteilnahme, in Bekkers Augen nicht die besten Voraussetzungen für einen erfolgreichen Therapeuten. Der Patient profitierte mehr von einem distanzierten Arzt als einem, der sich persönlich verstrickte, und dabei Gefahr lief die naheliegenden Dinge zu übersehen. Allerdings hätte Bekker niemals eingestanden, dass er selbst dieser Kategorie angehörte. Sie schien seinen Blick nicht zu bemerken und fuhr fort, indem sie jedes Wort betonte.

      „Wir sollten uns schnellstmöglich über eine seitengetrennte Beatmung klarwerden. Gleich, wenn wir mit den Eltern gesprochen haben. Auch braucht sie eine thorakale PD und am besten tracheotomieren wir sie direkt.“ Bekker nickte, wenn auch etwas zögerlich, was ihr diesmal nicht entging.

      „Die Eltern“, sagte sie. „Wir brauchen das Einverständnis. Das Kind muß in den OP. Die Chirurgen sind schon vor Ort.“ Sie zögerte einen Moment.

      „Sprechen Sie mit Ihnen? Ich meine grundsätzlich.“ Bekker nickte und wandte sich der Tür zu, drehte sich dann aber noch einmal um.

      „Ich denke, das sollten wir zusammen tun. Sie werden ja in der nächsten Zeit der erste Ansprechpartner sein. Ich hole die Leute jetzt erst mal ans Bett ihrer Tochter, und dann setzen wir uns im Arztzimmer kurz zusammen.“ Bekker kehrte in den Vorraum der Intensivstation zurück, wo das Ehepaar Lein geduldig wartete. Sie sahen ihn erwartungsvoll an. Bekker fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, und als sein Blick den der Mutter traf, gab es ihm einen Stich ins Herz.

      „Wir gehen jetzt zu Ihrer Tochter. Bitte erschrecken Sie nicht über die vielen Schläuche und Infusionen und die Beatmung. Das Mädchen befindet sich in einem künstlichen Koma. Nicht so tief, dass alle Reflexe ausgeschaltet wären, aber tief genug, um Stressreaktionen und Schmerzen zu vermeiden. Ich bin sicher, dass sie Ihre Anwesenheit irgendwo tief im Unterbewusstsein wahrnimmt, und das ist wichtig. Für uns alle. Ich gebe zu, für Laien sieht das alles trotzdem ziemlich heftig aus.“ Ihm fiel kein anderes Wort ein.

      „Aber glauben Sie mir, Ihre Tochter ist zur Zeit vollkommen stabil. Kreislauf und Lungenfunktion sind unproblematisch. Ich geh’ voran.“ Er öffnete die Tür zur Station und ließ die Eltern hinein. Er nahm wie selbstverständlich den Arm der Frau und dirigierte sie in die richtige Patientenbox. Seine Geste war Tröstung und Vorsorge zugleich. Frau Lein wäre nicht die erste Mutter, die am Bett ihres Kindes zusammenbrach. Es fehlte noch, dass sie sich verletzte. Die junge Patientin war mit einem weißen Laken zugedeckt. Nur der Kopf schaute über das obere Ende hinaus. Aus dem Mund ragte der transparente Beatmungstubus, dessen Innenseite sich im Rhythmus des Atemzyklus wechselnd beschlug und dann wieder klar wurde.

      Bekker hatte eine dezidierte Vorstellung, wie Eltern sich in einem solchen Moment fühlen. Ihre letzte Erinnerung war in der Regel ein fröhliches und lebhaftes, vor allem aber gesundes Kind. Dies hier war ein Schock, ganz gleich, wie differenziert die Menschen waren, und ganz gleich, wie lange sie Zeit gehabt hatten, sich mit der Situation auseinanderzusetzen. Die Eltern der kleinen Friederike standen stumm am Bett. Frau Lein nahm dankbar den angebotenen Schemel und setzte sich dicht an die Bettkante, um die Hand ihrer Tochter halten zu können. Diese kleine, blasse, kalte Hand. Bekker ließ die Familie eine Weile für sich, dann kehrte er zurück und fasste die Schulter der Mutter mit sanftem Druck.

      „Ich habe hier zwei Formulare. Das eine ist die Einverständniserklärung für die Operation, das andere für die Anästhesie. Sie müssten bitte unterschreiben. Das Kind geht gleich in den OP. Ich hatte Ihnen ja am Telefon schon gesagt, warum.“ Frau Lein nahm die Schriftstücke wortlos aus seiner Hand, legte sie auf den Nachttisch und unterschrieb. Gab sie Bekker zurück, der sie in die Patientenakte legte. Sie stellte keine Fragen. Auch ihr Mann blieb stumm.

      „Wir müssen uns unterhalten“, sagte Bekker. „Es gibt ein kleines Stationszimmer hier. Kommen Sie. Sie können im Moment für Ihre Tochter nichts tun.“ Das Stationszimmer der Intensivstation war von den Abmessungen her eine bessere Besenkammer. Dazu vollgestopft mit Regalen und einem EDV-Arbeitsplatz mit zwei Bildschirmen. Bekker nannte es scherzhaft ‘Arztschrank’, und mehr war es beim besten Willen nicht. Die Ärzte standen, nachdem das Ehepaar Lein mit einigem Sträuben die beiden einzigen Stühle akzeptiert hatte. Der Mann fand als erster seine Sprache wieder.

      „Wenn ich das alles richtig begreife, ist Friederike ziemlich schwer verletzt. Sie müssen ein bisschen Geduld mit uns haben. Wir kommen beide nicht aus dem naturwissenschaftlichen Metier. Meine Frau ist Maklerin. Immobilien. Ich bin Anwalt. Arbeitsrecht. Also entschuldigen Sie, wenn wir dumme Frage stellen.“

      Bekker nickte freundlich. Lein wiederholte sich, als wolle er verhindern, dass man zum Kern kam. Er wartete einen Moment, ob direkte Fragen gestellt würden, zumal Herr Lein seine Frau fragend ansah. Aber sie schwieg und hatte den Blick gesenkt. Sie sagte nichts, sie weinte nicht, saß einfach nur so da.

      Bekker hatte für solche Situationen immer die gleiche Strategie, die er lediglich nach der spezifischen Erkrankung des betroffenen Patienten variierte und nach seiner persönlichen Einschätzung der Belastbarkeit seiner Ansprechpartner. Auch die Vorbildung spielte eine Rolle; mit einem Arzt konnte man anders reden als mit einem Steuerberater oder einem Handwerker. Jedoch, es gab psychische Belastungen, wo intellektuelle Merkmale in den Hintergrund traten.

      Je härter das Schicksal die Menschen traf, desto ähnlicher wurden sie