Das Hospital. Benno von Bormann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Benno von Bormann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738094824
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erwähnt einer die Gefahr, in die sie sich begeben. Das liegt in Gottes Hand. Sie alle sind in Gottes Hand. Morgens drängt er stets zum Aufbruch, aber oft müssen sie verweilen, da der Anführer beschließt zu jagen, um für den Abend und vielleicht den nächsten Tag frisches Wildbret zu haben.

      „Früh morgens ist das Wild besonders gut aufzuspüren“, sagt er. Dabei verweist er manchmal auf die Hilfe eines indianischen Gottes der Jagd, verbessert sich aber schnell unter dem strengen Blick des Jesuiten.

      „Unser aller Gott, der Herr, wird eine gute Jagd für uns haben.“ Tatsächlich sind viele Tiere am frühen Morgen durch die nächtliche Kälte erstarrt und zu langsam in ihrer Flucht.

      Eines Morgens sind sie wieder alle zum Jagen aufgebrochen. Obwohl es zum ersten Mal heftig geschneit hat und die Bäume sich unter der weißen Last biegen, laufen auch die Frauen und die beiden Kinder mit den Jägern. Selbst der Novize hat sich angeschlossen. Er ist stark und geschickt mit Pfeil und Bogen. Vor einigen Tagen hat er einen anrennenden Keiler mit dem kurzen Jagdmesser niedergestochen. Seitdem behandeln ihn die Indianer nicht mehr mit der üblichen Geringschätzigkeit. Der Jesuit bleibt als Einziger zurück und nützt die Einsamkeit für ein ausgiebiges Gebet zu seinem Herrn, denn er spürt, dass sie ihrem Ziel nun nicht mehr fern sind.

       Die Eindringlinge bemerkt er erst, als es fast zu spät ist und man durch die Sträucher bereits ihre bemalten Leiber und Gesichter sehen kann. Instinktiv wirft er sich zu Boden, bleibt regungslos liegen und hält den Atem an. Trotz der eisigen Kälte bricht ihm der Schweiß aus.

       Schließlich kriecht er soweit er kann, fort von der noch züngelnden Feuerstelle, bleibt dann liegen, erschöpft, gegen die kalte Erde gepresst und zu Gott flehend, sie mögen ihn nicht entdeckt haben. Erst viele Minuten später wagt er sich zu drehen, bleibt dabei jedoch dicht über dem Boden. Schließlich, getarnt durch dichtes Gestrüpp, sieht er sie. Es müssen Huronen sein, denn sie gleichen exakt den Beschreibungen. Sie sind größer als seine Begleiter und von etwas dunklerer Hautfarbe. Ihre grelle Bemalung macht ihm klar, dass sie nicht in friedlicher Absicht gekommen sind. Er versucht ihre Zahl zu bestimmen und schätzt sie schließlich auf über zwanzig. Es sind ausschließlich Krieger, das ist an ihrem Schmuck und ihrer Bemalung zu erkennen. Ihre Oberarme sind nackt, trotz der Kälte.

       Sie beginnen, nachdem sie das Lager ausgiebig inspiziert und alles Wertvolle an sich genommen haben, Deckung zu suchen, ganz offensichtlich in Vorbereitung eines Überraschungsangriffs auf diejenigen, die diese Feuerstelle hergerichtet haben. Fieberhaft überlegt der Priester, wie er die Rückkehrer warnen könnte. Doch es gibt keine Chance. Er selbst hat Glück, dass sie ihn noch immer nicht entdeckt haben, zumal zwei von ihnen sich in seiner unmittelbaren Nähe hinter dichtem Gestrüpp niederkauern. Still betet er zu Gott, fleht um seinen allmächtigen Schutz, zuerst für die anderen und dann auch für sich. Obwohl er sich in der Hand des Herrn weiß, schnüren Angst und Panik ihm die Kehle zu. Sein Herz will zerspringen, und er muss kämpfen, nicht zu wimmern oder unter sich zu lassen.

       Wenig später kommen die Jäger zurück. Sie lassen keine besondere Vorsicht walten, ahnen mit keinem ihrer so gut entwickelten Sinne die drohende Gefahr. Der Angriff trifft sie unvorbereitet, und nach wenigen Minuten ist der aussichtslose Kampf vorbei. Die Hauptfrau des Anführers fällt als erste zu Boden. Ein Pfeil fährt ihr von der Seite durch den Hals, bildet ein Kreuz mit ihrem Kopf, ihrem Leib und ihren Schultern. Schreiend bricht sie zusammen. Das Gesicht verzerrt in Schmerz und Todesangst, liegt sie hilflos auf dem Rücken. Die anderen werden bis auf einige wenige, die man zu Gefangenen nimmt, niedergemacht. Auch der Novize stirbt. Ein Speer durchbohrt ihm die Brust noch bevor er das Messer am Gürtel berührt hat. Alles ist blitzschnell gegangen.

       Die Kinder haben sie nicht sofort getötet. Sie klammern sich an den Vater, der gefesselt auf dem Boden sitzt. Man reißt sie an den Haaren weg von ihm. In diesem Moment beginnt er zu singen, ein heidnisches Lied in hohen fremden Tönen, dessen Stakkato sich an den umliegenden Hügeln bricht oder auf der dunklen Fläche des nahen Flusses lautlos verhallt. Er steigert sich. Mehr und immer mehr. In ihm ist eine ungeheure Kraft, die ihn fortträgt in ein Land, wohin ihm niemand folgen kann. Sein Gesang erstirbt nicht, als sie seinen Kindern das Messer an die Kehle setzen, und auch dann nicht, als sie wenig später mit durchschnittener Kehle vor ihm im Schnee verbluten wie frisch gejagtes Wild.

      Die Frau im Todeskampf hat das Sterben ihrer Kinder gesehen und versucht mit äußerster Kraft sich aufzurichten, um zu ihnen hin zu kriechen. Doch sie ist längst zu schwach. Wie ein böses fremdes Wesen frisst sich das Blut der Kinder durch den Schnee hin zu ihr, und ihr Entsetzen und ihre Verzweiflung steigen ins Unermessliche.

       Der Priester hat in seinem Versteck alles mit angesehen. Plötzlich, von einem Moment auf den anderen, verlässt ihn seine Furcht, als sei ein starker, schwerer Vogel, der eben noch schmerzhaft in seine Schulter gekrallt war, zurück in den Himmel geflogen.

       Er verlässt die sichere Deckung. Ohne Eile und ohne die Mörder zu achten, die für einen Moment überrascht zurückweichen, geht er aufrecht zu der Sterbenden. Er kniet neben ihr nieder. Als seien sie beide allein auf der Welt, bettet er ihren Kopf auf seinen Mantel und streicht über ihre Wange. Er hat kein Weihwasser aus einem goldenen Becken. Mit Schnee, der in seiner Hand schmilzt, zeichnet er das Kreuz auf ihrer Stirn, segnet sie und gibt ihr das heilige Sakrament.

      Während der kalte Wind durch die dürren Äste fegt und die Feinde, gestützt auf ihre blutigen Waffen, ungläubig auf die Szene starren, empfiehlt er sie mit tröstenden, liebevollen Worten der Gnade des allmächtigen, gütigen Gottes. Die sterbende Frau, eine Wilde, die Mond und Sonne anbetet, sieht ihn an. Angst und Entsetzen weichen aus den aufgerissenen Augen. Sie lächelt, ein freies, erlöstes Lächeln, und mit einem Ausdruck tiefen Glücks auf ihren Zügen stirbt sie. Neben ihr kniet der Priester im Schnee, und sein Gebet dankt dem Herrn für seine Gnade. Für einen kurzen Moment ist vollkommene Stille, als sei all das Schreckliche zu Eis geronnen, um so auf ewig zu verharren.

      Die furchtbaren bemalten Krieger springen auf den Priester zu, packen ihn.

      *

      Bekker setzte sich schweißgebadet im Bett auf. Fast fühlte er die harten Hände, die an seinen Armen zerrten.

      Er sah auf die Uhr. Es war kurz vor drei Uhr nachts. Er legte sich zurück und dachte nach. Vor seinen Augen waren die Landschaft, die Sonne, der endlose Horizont. Auf seiner Haut der eisige Wind. An Schlaf war nicht zu denken, sein Herz pochte. Je mehr er nachdachte, desto klarer wurde ihm, was ihn so aufwühlte.

      Bekker war Romantiker und er glaubte an die Vorsehung. Für ihn hatten jedes Leben einen entscheidenden Moment, ein Finale, das wie ein Brennglas alles Stattgehabte auf einen einzigen Punkt konzentriert. Das Auf und Ab, die Freuden, Spannungen und Mühseligkeiten waren der Weg dorthin. Nicht mehr, nicht weniger. Für diesen Jesuiten in der Wildnis Nordamerikas, viele tausend Meilen von der Heimat entfernt, waren die Tröstung und Segnung einer sterbenden Heidin dieses Ziel. Dafür hatte er gelebt, ohne es je zu wissen, nicht einmal in seiner qualvollen Todesstunde. Aber Gott hatte es so gefügt und ihn dafür einen langen, beschwerlichen Weg gehen lassen. Die Menschen sollten wissen, dass er, Gott, allen gehörte. Bekker war davon zutiefst überzeugt.

      Er drehte sich zur Seite. Auf einmal fühlte er sich erleichtert, als hätte man alle Last von ihm genommen. Das Leben war kompliziert, aber schön. So schön.

      14. Kapitel

      Städtisches Klinikum

      Es war einer der üblichen hektischen Tage gewesen. Bekker hatte seine Zeit bis nachmittags im OP zugebracht. Der Patient in der Allgemeinchirurgie hatte sich als inoperabel herausgestellt. Der bösartige Tumor war weit in das umliegende Gewebe eingebrochen, und die meisten Lymphknoten der unmittelbaren Umgebung hatten mehr als das Doppelte ihrer üblichen Größe. Der Operateur hatte die ursprüngliche Strategie einer radikalen Operation verlassen und lediglich einen Eingriff durchgeführt, der für eine gewisse Zeit die Darmfunktion gewährleistete. Die Lebenserwartung des Patienten betrug wenig mehr als ein halbes Jahr, und durch den palliativen Eingriff