„Tag Hanni“, sie schreckte hoch und sah ihren Mandanten, Dr. Idel, der deutlich weniger nervös wirkte, als sie selbst.
„Hallo Wolfgang, setz dich, wie geht es dir?”
„Gut natürlich, wir werden heute gewinnen und das verdanke ich dir, meine Prinzessin“, sagte Dr. Idel charmant und zog ihre Hand an seine Lippen.
„Hör auf damit“, sagte sie ärgerlich, „ich kann diesen Schmusekurs nicht leiden.”
„Pardon“, erwiderte er und setzte ein ernstes Gesicht auf.
„Gibt es noch was zu besprechen?”
Johanna stand auf, nahm ihre Robe und sagte: „Nein, ich denke, wir gehen.”
Urteilsverkündung! Wie immer bedeutete das Warten auf den Spruch des Richters für Johanna eine endlose Qual. Hatte Sie alles getan, um ihrem Mandanten zu helfen? Hatte sie vielleicht Fehler gemacht, die ihm den Hals brechen würden? Hatte sie die Richter überzeugen können? Und wie jedes Mal dachte sie auch jetzt wieder: „Warum bin ich bloß nicht ins Hotelfach gegangen?”
Johanna wurde durch das Eintreten des Gerichts abgelenkt. Die Anwesenden erhoben sich und lauschten den Worten des Vorsitzenden:
„Der Angeklagte Dr. Wolfgang Idel wird von dem Vorwurf des Betruges freigesprochen, die Kosten des Verfahrens trägt die Staatskasse.”
Aufatmend wandte sich Johanna ihrem Nachbarn zu. Er lächelte sie triumphierend an, und es machte ihr in diesem Moment nichts aus, dass er sie umarmte.
Die Staatsanwältin, eine Studienkollegin von Johanna, schien sich noch nicht klar darüber zu sein, ob sie Berufung einlegen sollte und wollte zunächst die schriftliche Urteilsbegründung abwarten. Sie winkte Johanna freundschaftlich zu und verließ den Saal.
Johanna packte ihre Tasche und wandte sich ebenfalls dem Ausgang zu. Das Gericht befasste sich bereits mit der nächsten Sache und andere Anwälte saßen neben ihren Mandanten mit mehr oder weniger angespannten Gesichtern auf den harten Bänken der Gerechtigkeit.
„Das müssen wir unbedingt feiern”, sagte Wolfgang und hängte sich bei ihr ein.
„Aber nicht heute, ich habe schon was anderes vor”, erwiderte Johanna.
„Dienstlich oder privat?” fragte er, was sie ziemlich aufdringlich fand, dennoch antwortete sie kurz: „Privat.”
„Wieso, Ludwig ist doch in Hannover bei der Aufsichtsratssitzung”, sagte Wolfgang.
„Eben”, lächelte Johanna ihn an und verließ den Gerichtssaal. „Prinzessin, bist du auf Abwegen?”, fragte Wolfgang mit gerunzelter Stirn, aber sie winkte ihm nur noch freundschaftlich zu und ließ ihn stehen.
Mit dem Aufzug fuhr sie in die Tiefgarage, warf ihre Akten und ihre Robe in den Kofferraum ihres Wagens und machte sich auf den Weg nach Hause. Sie hatte eigentlich gar nichts anderes vor, als endlich mal einen halben Tag nichts zu tun, sich zu entspannen, auf ihrer Terrasse zu sitzen und ihren Träumen nachzuhängen. Aber genau das wollte sie Wolfgang nicht erzählen, er hätte es ohnehin nicht verstanden. Er gehörte - genau wie Ludwig - zu der Gruppe der “Macher”, Leute, die keine Auszeit kannten, es sei denn, sie gehörte ins Programm. Ein Dienstagnachmittag war zum Arbeiten da und für Träume nicht gedacht, die hatten Zeit bis zum Wochenende oder bis zum Urlaub. Basta. Johanna hingegen gönnte sich hin und wieder diese kleine Flucht aus dem Alltag und verheimlichte sie gerne, dann waren sie umso wertvoller.
Sie hatte ohnehin eine schwere Zeit vor sich, denn ab dem nächsten Freitag stand der traditionelle Maiurlaub an, ein Segeltörn mit Ludwigs Freunden und deren dauerhaften oder wechselnden Begleiterinnen. Johanna freute sich nicht besonders auf diesen Urlaub, denn für sie war Segeln keine Erholung, eine Erkenntnis, die sie selber überrascht hatte. Während ihres Studiums hatte sie oft neidisch den Schilderungen einer Kommilitonin gelauscht, die ihre Ferien auf der Segelyacht ihrer offensichtlich wohlhabenden Eltern verbrachte. Sie hatte dann auch von romantischen Fahrten über eine liebliche See geträumt, vor einer traumhaften Kulisse am Mittelmeer, mit stimmungsvollen Aufenthalten in pittoresken Häfen. Sie hatte sich in ihrer Vorstellung in gelbe Kissen gebettet gesehen, einen Drink in der Hand haltend und das Panorama von Monte Carlo hinter der Buglinie gelangweilt betrachtend.
Als sie dann vor Jahren von Ludwig tatsächlich auf einen Segeltörn ins Mittelmeer eingeladen worden war, wähnte sie sich am Rande der Glückseligkeit. Der Schock kam jedoch schon beim Einpacken, als Ludwig den größten Teil ihrer Kleider wieder aus dem Koffer holte und sie nach einer vergeblichen Suche in ihrem Kleiderschrank in ein Sportgeschäft schleppte. Dort sah sie sich in einen Faserpelz gehüllt, unkleidsame Troyer in Tüten verschwinden, gefolgt von Overalls aus wasserfestem Material. In diesem Moment hatte sie zum ersten Mal geahnt, dass das mit den gelben Kissen und den Drinks womöglich ein Missverständnis gewesen sein könnte. Dieser Eindruck wurde in den nächsten Wochen zur schauerlichen Gewissheit. Beim Betreten des Bootes in Bandol, einer entzückenden Hafenstadt an der französischen Mittelmeerküste, musste sie bereits erhebliche Abstriche an ihren Vorstellungen von der Größe eines Schiffes machen. Ludwigs Boot war eine 15 - Meter - Yacht, also ein durchaus geräumiges Schiff - aber die Vorstellung mit sieben weiteren Menschen drei Wochen hier verbringen zu müssen, schreckte sie ab. Dann der 24-Stunden-Schlag, so nannten das die versierten Segler, und Johanna fand diesen Ausdruck überaus passend, nach Korsika bei Windstärke 8. In ihrer Erinnerung war ihr so, als hätte sie mehr als die Hälfte der Zeit über der Reeling hängend verbracht, grün im Gesicht und weitgehend unbeachtet von den anderen, die sich lediglich noch vergewissert hatten, dass sie angeseilt war. Sie hatte Todesängste ausgestanden, ohne eine Chance zu haben, sie erwähnen zu können, sie hatte Angst vor der Tiefe und der unübersehbaren Weite des Meeres. Sie verabscheute die Enge der Kojen und hatte ständig das Gefühl, als tropfe ihr irgendwas auf den Kopf. Nachts lag sie wach und lauschte dem nervigen Geräusch Hunderter von Fallen, die unablässig an die Masten klickten. Für Ludwig war Angst vor dem Wasser ein unbekanntes Phänomen. Er schlüpfte in sein Ölzeug wie in eine zweite Haut und stand bei Wind und Wetter glückselig an der Pinne oder hinter dem Steuerrad, wo er - zugegebenermaßen - eine hervorragende Figur machte. Je härter das Wetter, desto fröhlicher wurden Ludwig und seine Freunde. Er war der festen Überzeugung, Johanna brauche sich nur zusammenzureißen, um damit zurechtzukommen. Deshalb hatte er auf ihren zaghaften Vorschlag, in diesem Jahr eine andere Art von Urlaub zu machen, mit recht wenig Verständnis reagiert.
„Du weißt, dass ich mich nur beim Segeln richtig entspannen kann, also verhalte dich bitte ein bisschen kontrollierter, wenigstens mir zuliebe“, hatte er die Diskussion abgebrochen, und sie hatte das Thema nicht mehr aufgegriffen.
Die Reise sollte in diesem Jahr von der holländischen Küste durch den Ärmelkanal zu den Scilly-Islands gehen, mit Stops auf den Kanalinseln, eine Tatsache, die Johanna ein wenig mit ihrem Schicksal versöhnte. Sie liebte diese Inseln, besonders Guernsey und freute sich auf die wenigen Tage, die sie dort verbringen konnte. Das einzige, was sie überhaupt schön am Segeln fand, waren die Abende in den kleinen Häfen, in denen man vom Boot aus eine ganz andere Perspektive genoss. Nach einem langen Segeltag abends in einen Hafen einzulaufen und dort erschöpft an Deck zu sitzen, gemeinsam ein Glas Wein zu trinken und den Sonnenuntergang zu beobachten, das war schon ein tolles Erlebnis und versöhnte sie ein wenig.
Johanna