Lazarus. Christian Otte. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christian Otte
Издательство: Bookwire
Серия: Die Zentrale
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742741233
Скачать книгу
„eher sehr hochspringen. Weil sie, auch das stimmt, sehr leichte Knochen haben. Hypnotisieren ist eine der psychischen Gaben einiger Vampire, aber nicht aller. Und dass sie Blutsauger sind ist auch nicht von der Hand zu weisen.“

      Alex konnte immer noch kein Anzeichen für eine Lüge erkennen, stattdessen hörte er von Wolk: „Um einen Vampir zu erschaffen, braucht es einen Biss, aber nicht jeder der gebissen wird, wird zum Vampir.“

      „Nicht?“

      „Nein. Dafür benötigt es im Normalfall etwas, das wir Bluttaufe nennen. Der Vampir trinkt das Blut des zu Verwandelnden und der trinkt im Gegenzug das Blut des Vampirs.“

      „Dann kann ich kein Vampir sein. Du hast leider einen Fehler in deiner Argumentationskette. Ich hatte nämlich keine solche Bluttaufe“, folgerte Alex triumphierend, „Ich wusste doch, dass du dir mit dieser Lügengeschichte früher oder später selber ein Bein stellen würdest.“

      „Ich sagte 'im Normalfall'. Bei dir haben wir einen, ich würde mal sagen, spezial gelagerten Sonderfall“, unterbrach ihn Wolk.

      Alex fühlte sich dabei an irgendwas erinnert, kam aber nicht darauf woran. Aber er sah, dass Wolks Blick auf seiner Brust ruhte.

      „Meine Transplantation?“ Wolk nickte kurz. „Was ist damit?“, hakte Alex mit fragendem Unterton nach.

      „Anscheinend gab es eine nicht autorisierte Bluttaufe. Bevor wir alle notwendigen Maßnahmen ergreifen konnten hatte der Verwandelte einen schweren Verkehrsunfall und starb. Da er vor seiner Verwandlung Organspender war und seinen Ausweis noch dabeihatte, wurde das Herz entnommen und transplantiert. Und schlägt nun in deiner Brust.“

      Alex sah an sich herunter und griff unwillkürlich an die Stelle, wo seine Transplantationsnarbe unter dem Hemd saß.

      Beide schwiegen. Alex versuchte das Gehörte zu verdauen. Versuchte die Erklärung, die Märchen und Legende so wissenschaftlich und rational erklärte, auf ebenso logische und eindeutige Weise zu widerlegen. Es kam ihm wie der Beweis vor, ob Gott existierte oder eben nicht.

      Der Ober kam und stellte das Essen vor den Beiden ab. Wolk wünschte einen guten Appetit und begann bereits ein Stück von seinem Fleisch abzuschneiden, während Alex immer noch nachdachte.

      Er konnte diese Diskussion nicht wissenschaftlich angehen, solange er nicht davon ausgehen konnte, dass sein Diskutant die gleichen Argumente als wissenschaftlich fundiert betrachtete. In der Wissenschaft gab es niemals absolute Gewissheit. In religiösen Diskussionen dagegen, betrachteten die Gläubigen ihre heilige Schrift als absolut richtig. Deswegen gingen die Argumente häufig aneinander vorbei. Wer an etwas bedingungslos glaubte, hatte verlernt zu zweifeln und blendete mitunter Argumente auch vollständig aus, die seinen Standpunkt widerlegten. Umso eine Argumentation gewinnen zu können, musste man sich auf das Niveau des anderen begeben und ihn mit den eigenen Argumenten aushebeln.

      Schließlich griff Alex zum Besteck, und begann schweigend zu essen. Er schmeckte das zarte Fleisch auf seiner Zunge zergehen, schluckte herunter und wartete. Er legte das Besteck auf den Teller, nachdem er sein Fleisch zu drei Vierteln aufgegessen hatte und sah Wolk zu, der genüsslich kaute.

      „Ich muss zugeben“, setzte Alex an, als er wieder das Messer ergriff, „fast wäre ich darauf reingefallen. Die Geschichte mit dem Vampir schön und gut, aber es fehlen die Beweise.“

      „Die Tatsache, dass du von den Toten auferstanden bist, reicht dir nicht?“

      „Es gibt keinen Beweis, dass ich überhaupt tot war. Angenommen die Schüsse waren nicht tödlich. Vielleicht hat sich jemand einen Spaß erlaubt und mich zum Aufwachen in die Pathologie geschoben.“

      „Und wer sollte sich so einen Spaß erlauben?“

      „Das weiß ich noch nicht. Aber, du sagtest selbst, Vampire sind Bluttrinker. Vampire können angeblich nichts außer Blut zu sich nehmen, da sie sonst erbrechen. Aber wie du siehst,“ Alex steckte sich betont langsam ein großes Stück Entrecôte in den Mund, kaute und schlucke es genüsslich runter, bevor er fortfuhr, „es schmeckt hervorragend und ich muss mich nicht übergeben.“

      Wolk spülte mit einem Glas Wasser nach, räusperte sich und erklärte dann: „Ich habe nie behauptet, dass sich Vampire ausschließlich von Blut ernähren. Diese Annahme beruht auf dem Fehlschluss, dass andere Lebewesen, wie Vampirfledermäuse und blutsaugende Insekten, nur Blut zum Überleben brauchen, und dies dann auch auf menschliche Vampire zutreffen müsste. Der Gedankengang ist aber falsch. Und in der Kultur hat dieser Fehlschluss Einzug gefunden, weil Dracula in allen neueren Verfilmungen des Satz sagt 'Ich trinke niemals … Wein.' Vampire müssen Blut zusätzlich zur normalen Nahrung zu sich nehmen, um bei Kräften zu bleiben. Im Gegensatz zur weitverbreiteten Meinung hat das Trinken von Blut keine primär mystische Komponente, sondern dient der Versorgung des Vampirs mit einem wichtigen Mineralstoff: Eisen. Ein Enzym im Magen des Vampirs zersetzt das Blut in seine Bestandteile. So kann er zum einen die im Blut gelösten Nährstoffe besonders einfach aufnehmen und wird außerdem mit dem für ihn essentiellen Eisen aus dem Hämoglobin versorgt. Der Organismus des Vampirs arbeitet in vielerlei Hinsicht anders als der eines normalen Menschen. Der extrem gesteigerte Eisenbedarf ist da noch einer der geringsten Unterschiede. Der Whiskey vorhin wird mit eisenhaltigem Quellwasser hergestellt, die Hausmarke eben ist ein mit Eisen angereicherter Fruchtsaft und rotes Fleisch ist ein guter Eisenlieferant. Außerdem kommt das Fleisch hier von einem ökologisch geführten Bauernhof“, beendete Wolk seinen Vortrag und schob sich wieder ein Stück in den Mund.

      „Alles schön und gut“, gab Alex zurück, „ich habe bei dem Überfall viel Blut verloren und soll viel Eisen zu mir nehmen. Von mir aus. Trotzdem noch kein Beweis.“

      „Was ist mit den Schusswunden?“

      „Was soll damit sein?“

      „Du hast keine.“

      „Ist mir auch schon aufgefallen, aber noch kein Beweis. Angenommen, ich habe im künstlichen Koma gelegen, bis die Wunden verheilt sind und ich hatte Glück und es sind keine erkennbaren Narben zurückgeblieben“, mutmaßte Alex.

      „In 3 Tagen?“, fragte Wolk nach.

      „Was wieder meine Theorie von einem groß angelegten Scherz unterstützt. Vielleicht ist gar nicht der 23. Oktober, oder ich lag ein Jahr im Koma und es ist wieder der 23. Oktober.“

      „Ist es nicht.“

      „Trotzdem alles wahrscheinlicher als dieses Märchen von Vampiren. Gibt es für ein Phänomen mehrere Erklärungsmöglichkeiten, sollte man immer die wählen, die die geringste Menge an zusätzlichen Hypothesen verlangt. Und in allen Hypothesen die ich hier aufstellen muss, ist Vampirismus noch die exotischste. Von daher...“ Alex legte seine Serviette neben den Teller. „...danke für das Essen, aber ich hätte jetzt gern mein Handy und meine Brieftasche.“

      Wolk griff in eine Tasche seines Sakkos und zog das geforderte heraus.

      „Ockhams Rasiermesser. Nicht schlecht.“

      „Als nächstes kommst du mir noch mit Werwölfen“, lachte Alex, als er Bens Nummer im Handy suchte.

      „Würden Werwölfe dich überzeugen?“

      „Ja, klar. Wenn du mir einen Werwolf zeigst, bin ich auch bereit die Existenz von Vampiren in Betracht zu ziehen“, antwortete Alex, das Handy bereits am Ohr.

      Während es in der Leitung klingelte sah er, wie Wolk aufstand, sein Sakko über die Stuhllehne hängte und sich sein Hemd am Hals und den Manschetten aufknöpfte.

      Tuuut. Hoffentlich will er sich jetzt nicht in einem öffentlichen Restaurant ausziehen, dachte Alex. Tuuut. Es dauerte einen Moment bis Alex die Veränderung in Wolks Augen erkannte. Die Iriden waren jetzt fast schwarz, seine Sklera wechselte von weiß auf gelb. Finger und Fingernägel wurden länger. Tuuut. In Wolks Kopf konnte er ein Knacken hören. Tuuut. Sein Gegenüber hatte sichtbare Schmerzen als sich sein Gesicht nach vorne verzog und Mund und Nase eine Schnauze formten. Tuuut. Die Haare an den Armen und um Gesicht wuchsen in einer Geschwindigkeit, die Alex nur aus Aufnahmen in Zeitraffer kannte.