Lazarus. Christian Otte. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christian Otte
Издательство: Bookwire
Серия: Die Zentrale
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742741233
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die Herren schon gewählt?“

      Wolk wählte das von ihm empfohlene Entrecôte, medium rare, und Alex tat es ihm gleich.

      „Ich trinke keinen Alkohol“, sagte Alex als der Ober wieder gegangen war und schob das Glas zu Wolk hinüber. Wollte der Kerl ihn abfüllen?

      „Erstens, weiß ich, dass du keinen Alkohol trinkst, weil du regelmäßig Medikamente nimmst aufgrund deiner Transplantation“, begann Wolk aufzuzählen.

      Die Information, dass er eine Herzoperation hatte, konnte jeder schlussfolgern, der Alex' nackte Brust mit seiner Transplantationsnarbe gesehen hatte. Das beeindruckte ihn noch nicht wirklich.

      „Zweitens“, fügte Wolk hinzu, „bin ich selbst Arzt und hab deine Akte gelesen. Vom medizinischem Standpunkt sind kleine Mengen Alkohol durchaus vertretbar. Das Immunsuppressivum das du nimmst hat keine Wechselwirkung mit Alkohol. Drittens, und das ist entscheidend, ist dies kein 'Hauswein', sondern eine 'Hausmarke'. Trink das, dann wird es dir bessergehen.“

      Alex hob das Glas vor den Mund und schnupperte daran. Blut war das nicht, was er nach dem bisher gehörten vermutet hatte. Aber nach Wein roch es auch nicht wirklich. Er nippte daran und kam dann zu dem Schluss, dass es sich um eine Art Mehrfruchtsaft handelte, allerdings hinterließ dieser einen leicht metallischen Nachgeschmack. Merkwürdigerweise empfand er eben diesen Nachgeschmack aber keineswegs als unangenehm, wie er es erwartet hatte, sondern genoss ihn und so trank er gierig das ganze Glas in einem Zug aus.

      „Du hast meine Frage noch nicht beantwortet. Was weißt du über Vampire? Inzwischen solltest du Zeit gehabt haben, darüber nachzudenken“, wollte Wolk wissen und lehnte sich auf dem Tisch vor.

      Alex sah sich um, aber es war definitiv niemand in Hörweite, der ihn für verrückt hätte halten können.

      „Eigentlich nur das, was die meisten wissen. Es handelt sich um einen Aberglauben, der vor allem in Osteuropa Verbreitung gefunden hatte.“

      „Du spielst auf Arnold Paole und Peter Plogojowitz an.“

      „Ich habe mir die Namen nicht gemerkt, aber vermutlich ja.“

      Paole und Plogojowitz waren serbische Männer, die 1732 und 1725 starben. Von beiden erzählten die Dorfbewohner, dass man sie nach der Beerdigung noch durch das Dorf schleichen sah. Zeitgleich häuften sich die Todesfälle unter der Dorfgemeinschaft. Alle, die dieser Serie zum Opfer fielen, behaupteten kurz vor ihrem Tod den angeblichen Vampir gesehen zu haben. Als man die Leichen ausgrub sah man, dass diese nicht verwest zu sein schienen. Die Haare und Fingernägel der Toten waren weitergewachsen und um ihren Mund hatten sie frisches Blut. Bei einer dieser Exhumierungen war ein Stabsarzt anwesend, der dies dokumentierte, bei der anderen wurde die Maßnahme von einem Beamten bewilligt und niedergeschrieben.

      „Das meine ich nicht“, ergänzte Wolk, „Vampire in der Literatur, in Filmen, in Geschichten, was weißt du darüber?“

      Alex überlegte kurz und zählte dann alles auf, was ihm einfiel.

      In der Kultur wurde viel über Vampire berichtet, aber wenig, was einer wissenschaftlichen Überprüfung standhielt. So war sich Alex sicher, dass die Fähigkeit sich in Nebel zu verwandeln ebenso ins Reich der Märchen gehörte, wie die Fähigkeit zu fliegen. Das sich Vampire ausschließlich durch Bluttrinken ernähren, andere Menschen hypnotisieren konnten und in Särgen schliefen, hielt er dafür am wahrscheinlichsten. Das alles war jedoch kein eindeutiges Zeichen für Vampire, sondern deuteten viel mehr auf ein psychologisches Phänomen hin. Irgendwo zwischen diesen beiden extremen lagen die anderen Eigenschaften, die Vampiren zugeschrieben wurden: Vampire waren immun gegen Alter, Krankheit und Gifte. Sie hatten Angst vor Kreuzen, Knoblauch und Kirchen. Der Kontakt mit Weihwasser und Sonnenlicht bereitete ihnen Schmerzen (letzteres, je nach Quelle, führte zu Verbrennungen oder zum Tod). Sie konnten sich in Wölfe und Fledermäuse verwandeln, hatten weiche Haut und Knochen und pflanzten sich fort, indem sie ihre Opfer bissen, bevorzugt entweder besonders leichtlebige Damen oder Jungfrauen.

      Dass die statistisch höchste Todeswahrscheinlichkeit bei Vampiren ein Pflock durchs Herz war und der Körper eines Vampires bei dessen Tod zu Staub zerfiel, waren die letzten Punkte, die ihm einfielen.

      Wolk nickte aufmerksam bei jeder genannten Eigenschaft und wartete geduldig, bis Alex fertig war.

      Der Ober stellte gerade einen Korb mit Brot auf den Tisch, als Wolk Luft holte um zu antworten.

      „Nun gut, fangen wir mit dem offensichtlichsten an. Vampire können sich weder in Nebel noch in irgendwelche Tiere verwandeln. Sie sind auch keine lebenden Tote, sondern haben die Fähigkeit zur Wiederauferstehung.“ Dabei deutete er auf Alex. „Sie funkeln nicht im Sonnenlicht und zerfallen darin auch nicht zu Staub. Auch nicht, wenn sie sterben. Richtig ist jedoch, dass sie stark auf die Sonne reagieren. Das reicht von einer ausgeprägten Lichtempfindlichkeit über Verbrennungen 3. Grades bis zu einer Sonderform der Xeroderma pigmentosa.“

      „Die Mondscheinkrankheit?“, fragte Alex nach. Wolk nickte.

      Alex hatte von dieser Krankheit gehört. Eine genetische Hautkrankheit, bei der eine starke Reaktion auf UV-Strahlen besteht. Die Haut bildet, sobald sie von UV-Strahlung getroffen wird, Entzündungen, welche sich später zu Hautkrebs weiterentwickeln können. Eine sehr seltene Krankheit. Da sich diese Krankheit nicht durch andere Indikatoren während der Schwangerschaft nachweisen lässt, erleben die meisten Patienten die erste Attacke kurz nach der Geburt. In einem Fernsehbericht hatten Eltern erzählt, wie sie das Kind ein einem weiß gestrichenen Raum auf die Wickelkommode legten und dann das Rollo vor dem Fenster öffneten. Durch die weißen Wände wurde das Licht mehrfach reflektiert und so traten die Hautreaktionen in Sekundenschnelle auf. Da die Betroffenen unbehandelt meist nicht älter werden als 10 und ihr Leben meist nur nachts führen können, hat sich der Begriff Mondscheinkinder, beziehungsweise Mondscheinkrankheit, etabliert. So schön der Name auch klingt, so schwer ist das Leben für die von der Krankheit betroffenen und deren Angehörigen.

      Wolk fuhr fort: „Wahr ist dagegen, dass Vampire aufgrund einer veränderten Genstruktur wesentlich länger leben als normale Menschen und aufgrund ihrer Selbstheilungskräfte auch Gifte, Krankheiten und schwere Verletzungen nahezu unbeschadet überstehen.“

      „Veränderte Genstruktur?“

      Wolk überlegte kurz, wie er es einem medizinischen Laien verdeutlichen sollte und erklärte dann: „Strenggenommen ist der Vampirismus über den wir hier reden eine Viruserkrankung. Im Gegensatz zu den meisten anderen Viren ersetzt der Nosferatu viridae nicht die komplette DNA im inneren der befallenen Zelle, sondern ändert einige Abschnitte, wie zum Beispiel die Telomere. Daraus ergibt sich auch die geringe Alterung und die Immunität gegen die meisten Dinge, die einen Menschen töten würden.“

      Telomere, das wusste Alex, sind die Endstücke der DNA-Ketten, die sich, nach allgemeiner Auffassung, bei jeder Teilung verkürzten und so ab einer kritischen Länge den Zelltod einleiten. Diese Enden gelten als Schlüssel zum Alterungsprozess. Wenn es wirklich eine Möglichkeit geben sollte, Telomere so zu verändern, dass sie sich nicht mehr verkürzen, würde das die Medizin um Lichtjahre voranbringen. Bevor Alex diesen Gedanken abschweifen lassen konnte, wurde er von Wolk mit weiteren Erklärungen in die Wirklichkeit zurückgeholt.

      „Die Reaktion auf Weihwasser und Kreuze ist eher psychosomatischer Natur. Ebenso sind das Nicht-betreten-können, oder besser Nicht-betreten-wollen, von Kirchen und das Schlafen in Särgen persönliche Entscheidungen. Oder beginnende Psychosen. Je älter Vampire werden, desto anfälliger werde sie auch für Geisteskrankheiten. Das menschliche Gehirn ist einfach nicht auf ewiges Leben ausgelegt. Irgendwann ist es einfach überfüllt.“

      Alex versuchte aus der Mimik und der Gestik seines Gegenübers schlau zu werden. Nichts wies darauf hin, dass er log. Keine nervösen Gesten. Kein Zucken. Kein Ausweichen des Blicks. Aber auch sonst nichts, was auf eine emotionale Reaktion hindeutete. Alles an Wolk wirkte als wäre er hochkonzentriert. Als könne er die Geschichte, die er gerade erzählte, aus dem Gedächtnis abrufen und herunterbeten. Entweder war er ein verdammt guter Schauspieler, oder ein verdammt schlechter. So schlecht, dass er so verbissen auf den