„Servus Jutta. Alles klar?“
„Mojn Sedi. Willst du fahren? Ich erzähl dir dann alles weitere. Nee, nich alles klar. Ich bin seit halb sieben Uhr morgens auf den Beinen und das am Sonntag, so'n Schiet. Los, einsteigen!“ Sedlmeyer schloss den Wagen auf und sie stiegen beide ein. Er startete des Wagen und fuhr los.
„Wohin?“ fragte er.
„Fahr erst mal grob Richtung Oberföhring, dann sag ich dir, wie's weiter geht. Am besten ist's wahrscheinlich, du fährst Innenstadt, direkt über Schwabing.“ Sedlmeyer grummelte:
„Danke, die Dame, ich find's schon selber. Jetzt erzähl mal, was hier los ist. Warum rufst du mich mitten in der Nacht an und wieso ist das hier auf einmal unser Fall?“
„Mitten in der Nacht? Jetzt mal Budder bei die Fische, du Schlafmütze. Also pass auf. Ich krieg heute morgen um kurz nach halb sieben nen Anruf – und das ist übrigens mitten in der Nacht. Egal, also ich krieg nen Anruf vom Widenmayer. Und der beschwert sich erst mal, dass er dich nicht erreichen kann!“ Sedlmeyer hob an zu protestieren:
„Wieso das denn? Ach, ja verdammt, mein Handy war ja leer.“
„Genau, irgend sowas. Und scheinbar hat der nur deine Handy-Nummer und nicht die von deinem privaten Festnetzanschluss!“ Sedlmeyer sagte nichts. Dr. Widenmayer war ihr Dienststellenleiter und Sedlmeyer hatte in der Arbeit absichtlich nur seine Handynummer hinterlassen. Streng genommen war das zwar höchst fragwürdig, denn in Zeiten der mobilen Rundum-Erreichbarkeit machte es so gut wie keinen Unterschied, aber wenn es auch nur einen symbolischen Effekt hatte, so gab es ihm doch das Gefühl, sich dadurch wenigstens ein kleines Stück Privatsphäre erhalten zu haben. Jutta fuhr fort:
„Jedenfalls haben wir wie gesagt eine Wasserleiche. Ein älteres Ehepaar hat sie heute früh beim Spazierengehen gefunden. Kannst du dir das vorstellen? Um welche Uhrzeit diese ollen Schabracken Sonntags zum Wandern gehen?“ Sedlmeyer tat entrüstet:
„Na na na! Ein bisschen mehr Respekt vor der älteren Generation bitte!“ Er grinste zu ihr herüber. „Gut, soweit klar. Aber wieso werden wir da hin geschickt und nicht der Jakubinski und seine Leute?“ Jutta zuckte mit den Schultern.
„Das weiß ich auch nicht. Der Widenmayer war nicht sonderlich gesprächig am Telefon. Genauer gesagt war er 'n büschen füünsch weil er dich nicht erreichen konnte.“ Sedlmeyer rollte mit den Augen.
„Jutta, mir san hier in Bayern, du sprichst in fremden Zungen!“ Sie grinste ihn bewusst affektiert an und fuhr fort:
„Jedenfalls hab ich schon mal soweit alles organisiert. Die Kollegen von der Streife sichern den Fundort, die KT ist auf dem Weg. Ich hab auch Mommsen angerufen und ihn gebeten, direkt hin zu kommen. Wird er allerdings nicht.“ Christian Mommsen war der Leiter der Pathologie und nicht gerade Sedlmeyer's Liebling. In seinen Augen war er der Inbegriff des humorlosen Gerichtsmediziners, der eine für ihn unverständliche Befriedigung daraus zog, in fensterlosen Kellern im Licht von Neonröhren tote Menschen auseinander zu schneiden. Was ihn allerdings regelmäßig auf die Palme brachte, war Mommsen's inflationärer und genussvoller Gebrauch medizinischer Fachbegriffe. Wie oft schon hatte er sich genötigt gesehen, bei medizinischen Gutachten mehrmals nachzufragen und um eine halbwegs verständliche Erklärung zu bitten – er kam sich dann jedes mal wie ein zurückgebliebener Schüler vor, der die simpelsten Dinge einfach nicht begreifen will. Er runzelte die Stirn:
„Und warum kommt er nicht?“ Jutta verdrehte die Augen und sagte:
„Er hat vor einer halben Stunde angerufen, steht mit einer Autopanne in Grünwald. Kannst du dir das vorstellen? Da fährt er 'nen fetten BMW für eine Milliarde Euro mit elektrischem Zahnseide-Spender oder sonst was für'n Schnickschnack und dann schafft er's nichtmal bis nach Freimann. Na jedenfalls hab ich mit ihm ausgemacht, dass wir ihn dann später direkt in der Pathologie treffen.“ Das war Sedlmeyer nur recht. Sollte Mommsen in der Gerichtsmedizin später seine Arbeit machen, sie würden am Fundort die ihre machen. Er fuhr fort:
„Hast du mit Jakubinski eigentlich auch gesprochen? Weiß der überhaupt, was passiert ist?“ Jutta machte ein unschuldiges Gesicht.
„Nö, ich fühle mich da nicht so zuständig. Du kennst doch den Widenmayer. Der sagt dir direkt an, was du zu tun und zu lassen hast. Ich nehme an, er hat Jakubinski inzwischen selber angerufen.“ Sedlmeyer setzte den Blinker und bog nach rechts ab.
„Der wird sicherlich nicht gerade bester Laune sein, dass sie ihm seinen Fall so einfach wegnehmen. Naja, lassen wir uns überraschen.“
Etwa eine halbe Stunde später waren sie am Ziel, nicht ohne sich vorher einmal kurz im Gewirr der kleinen Kieswege verfahren zu haben, die den einzige Zugang zu der bewaldeten Uferstelle darstellten, an der die Leiche gefunden worden war. Zwei Wagen der Bereitschaftspolizei standen mit laufendem Blaulicht am Wegrand, dahinter der weiße BMW Kombi der Kriminaltechnik mit geöffneter Heckklappe. Sie stiegen aus und sahen sich um. Ein junger Mann in Uniform kam zu ihnen herüber, die drei bronzenen Sterne auf seinen Schulterstreifen wiesen ihn als Polizeiobermeister aus. Er war ziemlich weiß im Gesicht und sah bedrückt aus. Er streckte Sedlmeyer die Hand zur Begrüßung hin und stellte sich in breitestem Bayerisch vor:
„Grias Good, Machtlfinger. Sie san die Kollegen vo da Mordkommission?“ Sedlmeyer schüttelte seine Hand.
„Sedlmeyer, Grüß Gott. Das ist meine Kollegin, Frau Hemmers“, stellte er Jutta vor. „Zeigen's uns den Fundort, bittschön?“ POM Machtlfinger ging wortlos voraus und bahnte ihnen einen Weg durch Bäume und Gebüsch. An der Uferböschung der Isar war ein etwa fünfzehn Meter langer Abschnitt mit rot-weißem Plastikband abgesperrt worden. Direkt am Fluss lag die Leiche, umringt von drei Kollegen der Kriminaltechnik. Die Szenerie hatte etwas bedrückendes, mehr noch als sonst bei Tatorten üblich, was, wie Sedlmeyer auffiel, daran lag, dass keiner von den Kollegen einen Ton von sich gab. POM Machtlfinger zeigte Sedlmeyer eine Personengruppe am anderen Ende der Absperrung und sagte:
„Do hint'n san de Zeugen. Personalien hamma aufg'nomma.“ Dann trat er einen Schritt zurück und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Sedlmeyer warf Jutta einen Blick zu, dann gingen beide zum Ufer um die Leiche zu inspizieren und knieten sich neben die Kollegen auf den Boden. Aller beruflichen Routine zum Trotz musste er erst mal schlucken. Er warf einen kurzen Seitenblick zu Jutta und sah ihre weit aufgerissenen Augen und die Blässe in ihrem Gesicht. Vor ihnen war eine schwarze Plastikplane ausgebreitet und mit Steinen an den Ecken beschwert worden. Am Kopfende der Plane stand ein geöffneter Aluminiumkoffer der Kriminaltechnik, der zahlreiche Instrumente und Werkzeuge enthielt. Auf der Plane lag ein totes Mädchen, offenbar im Teenager-Alter, auf dem Rücken. Sie war nackt, aufgequollen, haarlos und entsetzlich entstellt, ein paar Fliegen krochen auf ihr herum. Wasserleichen waren immer eine ziemlich üble Angelegenheit, besonders im Sommer. Die Verwesungsprozesse, die den menschlichen Körper in wässriger Umgebung verunstalteten, hinterließen rundheraus gesagt Horror-Leichen. So auch hier: die Augen des Mädchens waren milchig-trübe, ihr gesamter Körper grünschwarz verfärbt und aufgebläht, Fingernägel und Teile der Oberhaut fehlten. An einzelnen Stellen war die Haut grotesk aufgequollen, die Hände sahen aus, als würde sie faltige braune Handschuhe tragen. Vereinzelt waren Bissspuren von Fischen zu erkennen. Jutta hielt sich die Hand vor den Mund, stand auf und drehte sich weg. Sedlmeyer sah sich das tote Mädchen noch eine Weile an, dann gesellte er sich zu Jutta und sagte:
„Scheiße, Mann. Was hältst du davon?“ Jutta sah ihm eine Weile mit