Anele - Der Winter ist kalt in Afrika. Marian Liebknecht. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marian Liebknecht
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847634409
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für richtig, ihm zu sagen, was er wusste. Um etwa drei Uhr nachmittags machte er dann Schluss und ging durch die Innenstadt zu Fuß nach Hause, etwas, das er sehr gern tat, wenn er Zeit zum Nachdenken brauchte.

      2.

      Philipp liebte das herbstliche Wien. Er war schon eine Weile die Ringstraße entlang spaziert, deren Häuserfronten in der Oktobersonne klarer und gestochener hervortraten als während des Sommers.

      Als er in den Volksgarten kam, der trotz des bereits recht kühlen Wetters noch immer sehr frequentiert war, leuchtete ihm das farbenfrohe Laub der Bäume wie eine aus Braun- und Rottönen bestehende Staffelei entgegen, auf der ein Maler die verschiedensten Farbmischungen ausprobiert hatte. Vor dieser Kulisse entspann sich reges Treiben. Mütter mit ihren Kindern, Studenten, Pensionisten und anderes Volk genoss so wie Philipp die wärmenden Sonnenstrahlen, immer im Bewusstsein, dass dies einer der letzten schönen Tage vor der grauen und feuchten Trostlosigkeit des Novembers sein konnte.

      Wie die Farben des Herbstes mischten sich in Philipps Geist die Eindrücke des Tages zu seltsamen, immer neuen Kombinationen, von denen er nicht loskam. Vor allem wollte er sich eine Strategie zurecht legen, wie er auf diesen ganzen Rationalisierungs-Unsinn in der Bank, der ihn seiner Meinung nach frontal vor den Kopf stieß, reagieren sollte. Um den Grad seiner Verbitterung zu verstehen, muss erwähnt werden, dass bei Philipp eine bestimmte Eigenschaft im Übermaß vorhanden war, nämlich das Bedürfnis, gebraucht zu werden. Es war bei ihm so ausgeprägt, dass für ihn durch die Ankündigung seines Chefs, ihn in eine Art „Zwischenlager der Hoffnungslosen“ zu stecken, jede Sinnhaftigkeit seines weiteren Verbleibs in der Bank verloren ging. Es wäre für ihn demütigend gewesen, nur deshalb in der Bank bleiben zu können, weil dem Management eine Auflösung seines Vertrages wegen des Kündigungsschutzes zu mühsam erschien. Doch so sehr er sich auch den Kopf zerbrach, ihm fiel nichts besseres ein als abzuwarten, wie sich das Ganze weiter entwickeln würde.

      Als er zu Hause angekommen war, fühlte er sich durch den Spaziergang in der frischen Luft, die wegen des stetigen Windes in Wien sauberer war als in den meisten anderen Großstädten, wieder etwas besser. Der frustrierende Tag in der Bank war dadurch etwas in die Ferne gerückt und er war von diesem ungewissen Drang, auf das alles reagieren zu müssen, einigermaßen befreit. Da es noch nicht allzu spät war, beschloss er, sich für eine Stunde hin zu legen, bevor er sich mit Babsi auf dem Stephansplatz treffen wollte.

      Mit einem Ruck riss es Philipp aus dem Schlaf. Er wusste im ersten Moment nicht, ob es Morgen oder Abend war. Draußen war es bereits dunkel. Plötzlich schoss ihm durch den Kopf, dass er die Verabredung mit Babsi verschlafen hatte. Hastig griff er nach seiner Armbanduhr, die neben dem Bett lag. Sie zeigte Viertel vor Sechs. Das bedeutete, dass sich noch alles ausgehen konnte, wenn er sich nur beeilte. Er machte sich deshalb in aller Kürze im Badezimmer frisch, zog sich an und ging aus dem Haus. Mit der Straßenbahn fuhr er bis zur Oper.

      Babsi erwartete ihn schon am Beginn der Kärntnerstraße vor einem „Starbucks Coffee“-Laden, der gerade renoviert wurde. Er sah sie schon von weitem, unruhig von einem Fuß auf den anderen hüpfend und sich die Hände reibend, weniger vor Kälte als vor Ungeduld, wie es schien. Obwohl er sich sehr beeilt hatte, war er zehn Minuten zu spät. Als er bei ihr ankam, entschuldigte er sich und gab ihr einen Kuss.

      „Puh, heute ist es kalt. Nett, mich hier zehn Minuten stehen zu lassen. Bitte gehen wir gleich irgendwo rein und trinken etwas, ich erfriere sonst. Ich habe gehört, weiter vorne soll ein Italiener neu eröffnet haben, den könnten wir ausprobieren. Ich hab‘ seit Mittag nichts gegessen.“ Während des Schwalls ihrer Worte sah sie ihn gleichzeitig vorwurfsvoll und bittend an.

      Babsi war nicht wirklich eine Schönheit. Sie war mittelgroß, schlank und hatte bis knapp unter den Hals reichendes, blond gefärbtes Haar. Ihre echte Haarfarbe kannte Philipp nicht und war auch noch nie auf die Idee gekommen, sie danach zu fragen. Ihre Gesicht war außergewöhnlich fein gezeichnet, was ihr eine attraktive Ausstrahlung verlieh, der man sich nur schwer entziehen konnte. Das und ihr impulsives Temperament war es, das Philipp vor allem an ihr liebte, da es mit seiner ruhigen, gesetzten Art gut harmonierte, manchmal allerdings auch sehr anstrengend war.

      „Wir können hingehen, wo du willst. Ich habe heute keine bestimmten Absichten“, erwiderte er auf ihren Vorschlag, dachte sich dabei aber, dass er sicher nichts essen werde, da ihm nach dem heutigen Tag der Appetit vergangen war.

      Sie schlenderten die von Schaufenstern, Reklamelichtern und Straßenlampen hell erleuchtete Kärntnerstraße hinunter, die um diese Zeit trotz der Kälte voller Menschen war und bogen beim Stephansplatz in den Graben ein, während Babsi ohne Unterbrechung von ihren Erlebnissen der letzten Tage erzählte. Sie war diplomierte Betriebswirtin und arbeitete in einer florierenden Unternehmensberatungsfirma, die meistens auch nach Dienst eines ihrer Hauptgesprächsthemen war, weshalb Philipp über sämtliche in der Firma kursierenden Gerüchte bestens informiert war.

      „Gestern hat sich Fred wieder einmal aufgeführt, als ob er der Chef wäre. Er glaubt anscheinend, er wird Nachfolger vom Alten, der nächstes Jahr in Pension geht, aber Mike, sein Stellvertreter, hat mir erklärt, dass der gar nicht dran denkt, Fred für die Position auch nur in Betracht zu ziehen. Ich freu‘ mich schon darauf, sein Gesicht zu sehen, wenn er erfährt, dass er sich seine verblödeten Hoffnungen in die Haare schmieren kann. Der braucht wirklich einmal einen kräftigen Arschtritt, damit er wieder auf den Boden runter kommt.“ Babsi war wieder einmal beim Thema.

      „Und hat er dir auch gesagt, wer für den Abteilungsleiter vorgesehen ist?“ Philipp fragte immer nach, wenn es um Babsis berufliche Angelegenheiten ging, auch, wenn er sich – wie heute – überhaupt nicht dafür interessierte.

      „Das hat er mir natürlich nicht gesagt, aber wenn Fred aus dem Rennen ist, bieten sich ohnehin nur zwei an, die es werden können, Wolfgang oder ich. Wir sind die beiden dienstältesten. Wolfgang produziert außer heißer Luft zwar so gut wie nichts, aber er kann sich gut verkaufen und vor allem bläst er jeden mickrigen Erfolg, den er verbuchen kann, von Erbsen- auf Elefantengröße auf. Ich bin gespannt, ob Mike und Dr. Strasser auf ihn reinfallen.“

      Philipp konnte dem Gedanken, dass Babsi Abteilungsleiterin werden könnte, zumindest heute absolut nichts Positives abgewinnen, da er seit dem Gespräch mit Erich seine eigene berufliche Zukunft in den düstersten Farben vor sich sah. Irgendwo tief drinnen war Philipp Traditionalist, auch wenn er es nie zugegeben hätte. Der Mann hatte das Einkommen zu sichern und die Frau war für den Haushalt zuständig, so gehörte es sich, so hatte er es in seiner eigenen Kindheit mitbekommen. Bewusst würde er solche Ansichten nie vertreten, wäre auch niemals auf die Idee gekommen, aus Babsi ein Hausmütterchen machen zu wollen, was ohnehin nicht möglich wäre. In Situationen wie jetzt wirkte aber die Kindheit nach und machte die Vorstellung, von Babsi ausgehalten zu werden, weil sein eigener Job den Bach runter ging – und sollte es auch nur für kurze Zeit sein – , vollkommen unerträglich für ihn.

      Nach etwa zehn Minuten erreichten sie das Lokal. Babsi bestellte sich eine Pizza Capricciosa und dazu schwarzen Tee, eine etwas ungewöhnliche Zusammenstellung, aber das hatte ihr noch nie etwas ausgemacht. Philipp nahm einen Cappuccino. Er musste sich noch längere Zeit alle möglichen Erlebnisse der letzten beiden Tage anhören und fragte auch immer, wenn die Erzählung es erforderte oder Babsi es von ihm zu erwarten schien, freundlich nach, was dann so klang wie „Und was hat er darauf gesagt?“ oder „Tatsächlich, das hat er sich gefallen lassen?“. Als ihr Mitteilungsbedürfnis etwas nachließ, da sie alle Ereignisse der letzten Zeit zu ihrer Zufriedenheit aufgearbeitet hatte, rückte Philipp mit seinem Problem heraus. Einerseits wollte er ihr reinen Wein einschenken, da sie ja immerhin zusammen waren, andererseits schloss er nicht ganz aus, von ihrem Rat profitieren zu können.

      „Ich muss dir was sagen, Babsi“, begann er zögernd, „ich werde vielleicht meinen Job verlieren.“ Babsi sah ihn verwundert an und er erzählte ihr die ganze Geschichte, wie sie ihm sein Chef heute in der Firma mitgeteilt hatte, so detailliert wie möglich. Merkwürdiger Weise schien das Ganze, so wie er es schilderte, für Babsi nicht wirklich ein Problem zu sein.

      „Ist vielleicht gar nicht so schlecht“, entgegnete sie, „offensichtlich