Fred gab sich geschlagen und nickte. So freundlich es in dieser Situation eben ging. Die betenden Hände trennten sich lautlos, eine griff nach der Messingglocke, die früher möglicherweise in einem Gerichtssaal für Ruhe und gebotene Aufmerksamkeit gesorgt hatte. Innerhalb erstaunlich weniger Sekunden klingelte sie Fräulein Serlbacher herein, deren auffällig unauffällige Erscheinung auf den ersten Blick nicht nur Kaffeemaschinenkenntnisse versprach.
Fred hatte den festen Boden unter den Füßen verloren. Ganz leicht, fast widerstandslos glitt er dahin. Das Blatt schnitt sanft die Welle, mühelos trennte der Bug das Wasser, um auf der kurzen Reise zum Heck an den lackierten Bootswänden welke Erinnerungen aufzufrischen. Der alte Nachen und der See, sie gehörten zusammen. Fred setzte die Flasche an den Mund, ganz gewiss, nun überhaupt nicht mehr zu verstehen, was passiert war. Einzig und allein sicher war: er und dieses rätselhafte Haus gehörten nicht zusammen. Genauso wenig wie er und sein Vater. An dieser Ansicht war nach wie vor nicht zu rütteln. Der „vorzügliche Hennessy“, wie ihn Jure-Gunnar am Ende der Testamentseröffnung und den nachfolgenden Erläuterungen angeboten hatte, konnte gar nicht so großzügig bemessen sein, wie ihn Fred gebraucht hätte. Der protzig bauchige Schwenker war gebührend seriös gefüllt.
Den Rest gab sich Fred nun Stunden später draußen auf dem See, der ihm mit jedem Gedanken, jedem Schluck fremder wurde. Der See und der Schnaps sollten ihn schützen, davor bewahren, vor allem bewahren. Doch wovor? Denn obwohl Fred seit einiger Zeit dem Flaschenboden entgegen trank, war er immer noch zu nüchtern, um sich nicht mehr zu ärgern. Nicht weil er Fragen stellen musste. Er war es gewohnt, frühzeitig Probleme zu erkennen, für seine Art der Gastronomie Profile zu erstellen, die ihm und ausschließlich ihm Vorteile brachten.
„Da wo ich bin, ist vorn!“ Diese Floskel wurde durch einen Zeitgenossen wie Fred Wirklichkeit. Nein. Was Fred fuchste, war, erkannt zu haben, sich diese Fragen auch noch selbst beantworten zu müssen. Wenn er allerdings ehrlich mit sich war - und das war er meistens, ganz anders als er mit anderen umging - steckte er in einem unerträglichen Dilemma. Er spürte genau, daß es so war.
Aber nicht, warum.
Samstagmittag
Nur von einer Wolldecke geschützt, hatte Fred den Rest der Nacht auf der Bank in der Wirtsstube verbracht, den Kopf ungepolstert auf dem rohen Holz. Es war aber nicht die unbequeme Lage, die ihm zu schaffen machte.
„...hinterlasse ich Dir als Allerwichtigstes ein moralisches Erbe...“,
Fred versuchte, sich bequemer zu legen. In seinem Hirn kreisten Satzfetzen.
„...vielleicht ist es Dir vergönnt, liegt in Deiner Bestimmung, was mir trotz aller Anstrengungen verwehrt geblieben ist...“
Er konnte es sich nicht erklären. Drei Wochen waren vergangen, drei Wochen, die ihm sein toter Vater aufgezwungen hatte. Er fühlte sich ausgelaugt, überfordert. Nicht, weil es zuviel zu tun gab an diesem Ort, den er vor Jahren fluchtartig verlassen hatte, sondern weil er kein Gefühl dafür bekam, was er überhaupt tun konnte. Was er tun konnte, um dieses Warten zu beschleunigen. Er hätte sich auch gar nicht beschäftigen müssen, nur verstanden hätte er gerne, warum diese drei Wochen bis zur Testamentseröffnung sein mussten.
Dabei hatte alles so einfach ausgesehen, als er vor der verschlossenen Tür seines Elternhauses stand.
Vorübergehend geschlossen!
So heruntergekommen, wie das Schild aussah, hing es nicht erst an der Tür zur Besenwirtschaft, seit der Vater tot war.
Nun stand er da. Für drei Wochen an den Bodensee genötigt.
Schönes Fleckchen Erde, ruhig, zugegeben. Sicher nicht billig. Trotzdem wär ich lieber dabei, wenn meine Küche renoviert wird.
Diese Aufgabe hatte er notgedrungen seinem Freund Paul übertragen. Wenn man schon mal einen Architekten zum Freund hatte. Fred verstand nicht, warum er drei Wochen im Haus seines Vaters bleiben sollte, bevor der Notar das Testament öffnen würde. Er hatte keine Erfahrung mit Sterbefällen, aber mehr als eine Woche konnte das doch nicht dauern.
Den Vater unter die Erde zu bringen, war noch einfach. Fred musste nur anreisen, am Grab stehen und sich von zwei Dutzend Dorfbewohnern die Hand schütteln lassen. Er hatte nun nicht gerade erwartet, bei der Beerdigung seines Vaters das ganze Dorf ums Grab versammelt zu sehen, aber es reichte nur zur Ortsgruppe des Fischereivereins und einigen nahen Nachbarn. Zu den wichtigen Honoratioren hatte er offensichtlich nicht mehr gehört.
Die Behördengänge hatte der ihn kontaktierende Notar Falkenstein – Gunnar von Falkenstein, genaugenommen – übernommen und so sah es anfangs nach einem zähen, aber schmerzlosen Aufenthalt aus. So schmerzlos wie in der Familie seit langem mit persönlichen Angelegenheiten umgegangen wurde.
Im Moment erinnerte er sich an die letzten drei Wochen nur ungern, gerade weil durch die gehörige Portion Restalkohol die rational kaum zu greifenden Ereignisse noch absurder erschienen.
Die zwei Stunden gestern bei Doktor Falkenstein ließen allerdings die Wartezeit in einem anderen Licht erscheinen. Der Notar zelebrierte die Testamentseröffnung. Fred sank gleich immer tiefer in den gepolsterten Sessel, aber nach und nach wurde er doch aufrechter und angespannter. Im Leben hätte er das seinem Vater nicht zugetraut. Nun war er tot – und forderte einiges mehr.
Fred lag also auf seines Vaters Bank und war nicht ganz bei sich. Sein Blick versickerte in der dunklen Zimmerdecke, wo es glücklicherweise nichts, aber auch gar nichts zu entdecken gab. Durchs offene Fenster drang Möwengeschrei, ansonsten das fortwährende Rauschen des Sees, das zu diesem Flecken Erde gehörte, wie das Knistern zum Kaminfeuer.
Könnte die Bank sprechen - die Gelegenheit so nah an Freds Ohr war günstig wie nie - sie würde einige der Vorurteile revidieren, die Fred gegen seinen Vater hegte. Ach was, das ganze Haus könnte ein Lied davon singen. Aber Fred pflegte sein Vorurteil: alles, was von seinem Vater ausging, war abzulehnen. Seit damals, zu der Zeit, als Konrad Keller versuchte, seinem Sohn ein guter Vater zu sein - und sich doch mehr und mehr in seiner Einsamkeit einrichtete.
Der frühe Tod seiner Frau hatte ihn mit einem Schlag vom Leben abgeschottet. Fred war neun, Vrenie Keller 35. Sie starb bei einem Unfall auf See, eine Geschichte, die lange nicht erzählt werden durfte. Als die Mutter noch lebte, sprach Vater Keller öfters von dem harmlosen Begriff Muttererde, der für ihn beschreiben sollte, wo man gefälligst zuhause war, wo man sich wohlfühlen durfte und die schönste Zeit seines Lebens verbrachte.
Doch mit der Zeit zerschliss das Wörtchen Mutererde mehr und mehr. Es fand sich als Ausrufezeichen hinter allen faden Begründungen. „Muttererde“ erklang, wenn es darum ging, geduldig und zäh die kargen Jahre zu ertragen, die über sie hereinbrachen, unerwartet wie ein Heuschreckenschwarm für das Maisfeld. War es wirklich so unerwartet? Fred lebte in den Tag hinein und konnte seinen Lerneifer gerade so lange auf Trab halten, bis er das Abitur hatte.
Die Tage häuften sich, an denen er sich so störend wie Verkehrslärm und so unnötig wie Bodennebel vorkam. Stundenlang am heimischen Steg sitzen und die Füße ins Wasser baumeln lassen mochte er am liebsten. Irgendwann ging ein Ruck durch Fred. Der bis zu diesem Zeitpunkt auf den Namen Alfred hörte.
Was diesen Ruck verursachte, war niemandem in seiner Nähe klar. Nicht den paar Freunden und schon gar nicht den Nachbarn, die ihn kaum mehr als vom Grüßen auf der Straße kannten. Fred war ab sofort sein Name. Auf nichts sonst würde er mehr hören. Alfred! Wie klingt das schon? Altmodisch. Schwerfällig. Unauffällig.
Es war August. Seit einigen Monaten stand ein generalüberholtes Moped im Geräteschuppen. Er war gerade 16 geworden und alles sollte anders werden.
Nach außen hin blieb er unauffällig und irgendwie träge. Auch als Fred. Aber irgendwann war er so