Es zog ihn mitten in die Stadt. Bis November würde er dann lieber bescheiden in der Hüetlinstraße wohnen, wo ihn sein Verleger untergebracht hatte.
Die Vermieter priesen den Wohnraum zwar als Appartement, aber Beißwanger bestand darauf, es Wohnung zu nennen - mit kleinem Bad und noch kleinerer Küchenzeile. Ihm reichte das vollauf. Seine zehn Teesorten fanden Platz und morgens holte er sich unweit vom Haus zwei Croissants und eine Tageszeitung. Als glückliche Fügung wertete Beißwanger außerdem die Tatsache, dieses zartblaue Haus sei zu Zeiten des Konzils gebaut worden.
Was wollte er mehr?
Er lehnte am offenen Fenster und betrachtete das ebenso alte grüne Haus auf der anderen Straßenseite. Die Luft war warm und er genoss in tiefen Zügen den lauen Abend - und seine Gedanken, die ihn heftig umtrieben. Er spürte den Hauch Feuchtigkeit vom See, die eine Brise von der Hafenmole herüber trug. Hin und wieder drang Musik aus vorbeifahrenden Autos nach oben, viel konstanter war allerdings das Gerede der Grüppchen, die an seinem Haus vorbeiliefen, irgendwoher kamen oder irgendwohin gingen. Es war halb zwölf am Abend und Ferdinand Beißwanger arbeitete sich noch immer durch seine Bücher.
So spät in den Gassen des späten Mittelalters zu wühlen war für Beißwanger ungewöhnlich. Er fühlte sich einem geregelten Tagesablauf verpflichtet, war Frühaufsteher und wusste sehr wohl die Pflicht von einem entspannten und verdienten Feierabend zu trennen. Schließlich hatte er noch drei Monate vor sich, um seine Recherchen zum Konzil in ein sachkundiges und pointenreiches Manuskript zu verpacken. Es war aber auch ein ungewöhnlicher Tag.
Er dachte über diesen Tag nach, ließ ihn Revue passieren, ebenso präzise, wie er sich vorstellen konnte, in welcher Enge und mit welchem Geschrei das Marktgeschehen zwischen Hofhalde und Oberem Münsterhof um 1414 ablief.
Beißwanger hatte von einem Konstanzer Verlag den Auftrag bekommen, zur 600-Jahr-Feier des Konstanzer Konzils 2014 eine Jubiläumsausgabe zu verfassen. Das ehrte ihn sehr, verschaffte ihm aber auch eine nicht vorauszusehende Menge an Arbeit. Richtig, er war im Mittelalter zuhause, aber von 1414 bis 1418 war eben eine lange Zeit und die mit plötzlich 70000 Bürgern aus allen Fugen platzende Stadt ein schier unerschöpflicher Brunnen.
Der Verlag hatte ihm erlaubt - Beißwanger fand es eher verpflichtend - drei Artikel bis zur Buchveröffentlichung zu verfassen, die in der regionalen Presse auf das Konzilsjubiläum hinweisen sollten. Natürlich würde es sich nicht vermeiden lassen, die zugehörige Jubiläumsausgabe des Verlags anzukündigen. Beißwanger war das unangenehm, das zu erwartende Zusatzhonorar schmälerte aber seinen Widerstand ebenso wie seinen Hang zur Bescheidenheit.
Die Prozession der stolzen Fürsten und unnahbaren Gottesmänner durch die Straßen, das Ehrfurcht einflößende Glockengeläut über allen Dächern verknüpfte er mit dem zugehörigen Glanz, beschrieb die prächtigen Gewänder und erläuterte die politischen Querelen unter den vielen weltlichen und kirchlichen Herrschern. Für das Treiben, die Vielfalt an den Markständen fand Beißwanger Worte, die den Leser fast den Gestank und den Lärm spüren ließen, die aus den Gassen zum Münsterplatz drängten. Die Stadt war berstend voll.
Nach den Lehr- und Wanderjahren als Koch hatte es Fred nach Bacharach am Rhein verschlagen, also wieder ans Wasser. Unterbrochen von diesem notwendigen Übel Wehrdienst, den er in einer Gegend verbrachte, die nicht gerade mit landschaftlichen Reizen glänzte. Grafenwöhr. Oberpfalz. Klang und war beides einfach nur schrecklich.
Wie anders war der Rhein. Er zog die Menschen an, und sie ließen sich gerne nach Bacharach ziehen. An einen Ort, den vom Frühjahr bis zum Herbst weit mehr Touristen durchpflügten, als Bewohner gezählt wurden. Schmale, kopfsteingepflasterte Gassen, die von manchmal zu pittoresk renovierten Fachwerkbauten gesäumt wurden. Rot bemalte Fassaden verputzter Steinhäuser, geschichtsträchtige Ruinen in Sichtweite, efeu- und weinlaubbedachte Terrassen. Dem folkloresüchtigen Besucher wurde Geschichte quer durch viele Jahrhunderte geboten - der alle paar Meter ausgeschenkte Wein würde sie schon verdaulich machen.
Freds guter Ruf - zumindest was die Küche seiner Gaststätte „Zur guten Mahlzeit“ anging - verbreitete sich wie die Nachricht vom Sieg über die Reblaus. Als er das Lokal übernommen hatte, sprachen zwei Gründe für den Erhalt des Namens, den er etwas abgegriffen fand: erstens tauchte der Name in allen überregionalen Internetauftritten des Gaststättenverbandes auf und zweitens thronte er unübersehbar über den vier Fenstern, die die komplette Hausbreite dominierten. Es muss vor langer Zeit gewesen sein, als die Fassade mit einem geschickt gewählten Ockerton gestrichen wurde. Mittlerweile war schwer festzustellen, was Farbe und was Alterspatina war.
Das Thema Namensänderung war also vom Tisch, bevor die erste Suppe serviert wurde.
Von heut auf morgen sollte ihm dies allerdings nicht gelingen.
„Wo find ich denn den neuen Besitzer dieses Dornröschenschlosses?“
Fred schaute von seiner leeren Bierflasche auf, in deren braunen Schimmer er sich vertieft hatte. Er saß an einem Gartentisch inmitten seines verwilderten Innenhofes, gab dem Störenfried innerlich Recht, wollte aber seine Ruhe haben.
„Warum?“ Wie der Chef sah er grad wirklich nicht aus. Neben seinen auffallend großen Händen lagen Block und Stift. Die dunkelbraunen Locken waren durchwirkt von Zementstaub und Holzwolle. Insgesamt also eher die Erscheinung eines relativ großen, relativ trainierten Bauarbeiters in abgewetzter Cordhose. Auffällige grüne Augen, ein klarer Blick - der Kerl konnte sicher eine Mauer ohne Lot hochziehen. Dachte der Fremde. Aber im Moment saß Fred eher da, als hoffte er darauf, daß ihn das Gestrüpp allmählich überwuchern würde.
„Weil ich ihm mein Beileid aussprechen möchte. Hast für mich auch ´ne Flasche? Ich zahl sie auch, keine Bange.“
Fred erhob sich tatsächlich, überlegte es sich anders, setzte sich wieder und machte mit der Hand eine fahrige Geste. „Selbstbedienung.“
Mit zwei Flaschen kam der Störenfried zurück an den Tisch. „Darf ich?“
„Heute ist Ruhetag“, entgegnete Fred nur. Der Fremde holte sich einen Stuhl und setzte sich in gebührendem Abstand zum Nörgler an den Nachbartisch. Er wollte nicht unhöflich sein - aber neugierig schon. Fred schaute ihn an, aber genauso gut hätte er den Ranken an den kaum mehr sichtbaren Mauern zusehen können, wie sie wuchsen.
„Ich will ja nicht wirklich stören. Aber vielleicht kann ich helfen.“ Mit einem ‚Plopp’ öffnete er die Bierflasche, trank sie halb leer und klemmte sie mit einem genießerischen „Aaaah“ zwischen die Beine.
Fred ließ den Fremden warten.
„Hier läuft alles bestens. Nur die Putzkolonne hat mich versetzt.“
Sein Gegenüber gab nicht auf. Freundlich streckte er dem Einsilbigen die Hand entgegen. „Paul Anker, Architekt. Ich habe Kontakte zu Handwerkern jedweder Couleur. Und das mein ich auch so.“ Dabei lachte er derb über seinen eigenen Witz.
Architekten duzen wohl jeden, dachte Fred, musterte den Typen skeptisch und drückte die angebotene Hand. „Fred Keller, Pächter. Ich habe Kontakte zu einer guten Brotzeit. Und das mein ich auch so.“
Während Paul sich über eine dicke Scheibe roten Pressack hermachte, schilderte Fred kurz seine Pläne. Das Lokal war in einem Zustand, der dem des Gartens ähnlich war. In den Fugen der Küchenfliesen klebte das Fett der letzten Jahre, die zwei Gasträume rochen nach Zeiten, als in Wirtschaften noch geraucht wurde und verlangten danach, behutsam aber gründlich modernisiert zu werden. Fred schilderte seine Pläne ziemlich detailliert, aus seinem Leben erzählte er aber nahezu