“Meine Familie will trotzdem nicht glauben, dass Nam auf natürliche Weise gestorben ist.”
“Und wo wurde sie gefunden?”
Sum kramte einen Zettel aus der Tasche. “Der Mann heißt Herbert Keißen.”
“Wenn es der Keißen ist, den ich dem Namen nach kenne, dann ist er schon ziemlich alt für ein junges Mädchen wie deine Schwester, oder?”
Ich kannte Keißen vom Hörensagen. Er war ein bekannter Makler und Hausbesitzer in der Region. Keißen musste über fünfundsechzig sein. Wenn er wirklich zu den Wohnungshaien gehörte, wie manchmal behauptet wurde, dann ging er seinen Geschäften mit der nötigen Diskretion nach.
“Man sagt, er habe für die Zeit, als meine Schwester ertrank, ein hieb- und stichfestes Alibi.”
“Und welcher Art ist dieses Alibi?”
“Ich glaube, er war verreist.”
“Also gibt es Zeugen, die bestätigen können, dass er sich unmöglich zum Zeitpunkt ihres Todes in der Stadt aufgehalten haben kann, geschweige denn am Pool?”
“Man behauptet, er kann’s nicht gewesen sein.”
“Hat dieser Keißen deine Schwester … gekauft?”
“Sie nennen es nicht so. Bei ihnen heißt es 'Auslösung'.” Man wird angeworben. Ein Mann namens Brian Free, ein Engländer oder Amerikaner, kam in unser Dorf und suchte die Mädchen aus. Er arbeitet für verschiedene Abnehmer und Agenturen in Europa und organisiert die Ausreise.”
“Und wegen dieser Geschichte mit deiner Schwester hast du dir mein Bild in der Zeitung gemerkt? Weil ich eine Detektei betreibe?”
Sum lächelte verlegen. “Meine Familie hat etwas Geld gespart. Ich könnte Sie für Ihre Arbeit bezahlen.”
“Was macht dich so sicher, dass deine Schwester keines natürlichen Todes gestorben ist?”
“Als wir Kinder waren, sind wir jeden Tag im Meer schwimmen gegangen. Nam war die beste Schwimmerin, die ich kenne. Bei der Obduktion fand man keine Anzeichen für einen Herz- oder Gehirnschlag. Nicht einmal für eine vorausgegangene Ohnmacht. Sie ist einfach ertrunken.”
“Und dabei ließ man es dann bewenden?”
Sie zuckte die Achseln. “Es gab keine Hinweise auf ein Verbrechen. Menschen ertrinken nun mal, sagt die Polizei. Man bekommt aus irgendeinem Grund Wasser in die Lunge, und schon ist es passiert …”
Als ich Sum Nong im Hotelzimmer zurückließ, um ihre Sachen einzukaufen, brachte ich es nicht übers Herz, ihr zu sagen, wie wenig dafür sprach, dass ich mehr als die Polizei über den Tod ihrer Schwester herausfinden würde. Dazu hätte ich erst einmal die Akten des Gerichtsmediziners einsehen müssen.
Aber der würde sich nur müde lächelnd an den Hinterkopf fassen, wenn er von meinem Ansinnen hörte. Sollte ich Keißen zu dem Geständnis zwingen, dass er fähig war, sich an zwei Orten gleichzeitig aufzuhalten?
Oder dass seine Zeugen sich gerade von dem Geld für ihre Falschaussagen einen schönen Abend machten?
Genauso gut hätte ich auf einen jener glücklichen Zufälle bei meinen Ermittlungen hoffen können, die zwar manchmal vorkommen, aber leider meist nicht dann, wenn man sie am dringendsten braucht.
Ich schärfte Sum Nom noch einmal ein, die Tür abzuschließen und niemandem zu öffnen. Ich legte ihr eine Decke über die Schultern, weil sie fröstelte. Ich versuchte sie vergeblich davon abzubringen, mich zu siezen. Und bei alledem ließ ich sie in dem Glauben, sie könne mich vielleicht für ihren Fall gewinnen. Ich dachte, in ihrer Lage sei es besser, wenn sie sich möglichst wenig Gedanken darüber machte.
Doch als ich nach zwei Stunden mit einer nagelneuen Reisetasche, Marke “Kunststoff, der aussieht wie Krokodilleder”, und einem Satz schwarzer Damenunterwäsche zurückkehrte, war Sum Nong verschwunden. Ich sah mir die beiden Türschlösser zum Korridor an und leuchtete das Metall ab. Keine Spur von frischen Kratzern, die entstehen, wenn man Klammern oder die sogenannte “Zahnbürste” mit feinen rotierenden Drähten benutzt. Jemand schien eine der beiden Zimmertüren auf ganz normale Weise mit dem Schlüssel geöffnet zu haben. Vielleicht Sum Nong selbst? Aber warum hätte sie gegen meinen ausdrücklichen Rat das Hotel verlassen sollen?
Ich ging an die Rezeption hinunter. Dort erinnerte man sich nicht daran, dass sie weggegangen war. Der Parkplatzwächter hatte eine junge Asiatin mit zwei Männern in einen Wagen einsteigen sehen. Alte oder junge Männer? Brille oder keine Brille? Hut oder Mantel? Er wusste es nicht.
Er war so arglos und unwissend wie Gott bei der Erschaffung der Welt …
Er sah auch sonst Gott mit seiner goldglänzenden Schirmmütze und der dunklen Brille, die seine Augen gegen die ultraviolette Strahlung aus dem Ozonloch schützen sollte, verteufelt ähnlich; bloß dass an diesem Abend überhaupt keine Sonne mehr schien. Ich fragte mich, ob Gott vielleicht erblindet war, angesichts der Verbrechen in der Welt.
Aber das war eine Angelegenheit, auf die er mir keine Antwort geben würde. Er weigerte sich einfach, mit uns gewöhnlichen Sterblichen zu sprechen, vielleicht, weil er befürchtete, wir könnten ihm peinliche Fragen stellen. Also ging ich die gewundene Steintreppe durch den Wald zum Stausee hinunter und zündete mir eine selbstgedrehte Zigarette an, denn Nikotin beflügelt bekanntlich das Denkvermögen, und das wird besonders beansprucht, wenn man sich zu viele sinnlose Fragen stellt.
Das Stauseeufer war um diese vorgerückte Stunde menschenleer. Aber am anderen Ufer verbrannten ein paar verwahrloste Kinder aus den beiden Wohnanhängern Treibholz, das durch die Strömung übers Wehr getrieben wurde. Sie winkten mir mit den brennenden Scheiten zu, als sie mich entdeckten.
Dann warf einer der Jungen ein loderndes Stück Holz in den See, und einen Moment lang, als es in hohem Bogen herübergeflogen kam, dachte ich, er wolle mich auf irgend etwas aufmerksam machen – es beleuchte einen menschlichen Körper im Wasser. Bis ich meinen Irrtum erkannte und entdeckte, dass es nur ein abgesoffenes Ruderboot war.
Ich kehrte ernüchtert ins Hotel zurück, um einen Drink zu nehmen und über Sums Verschwinden nachzudenken. Mein Freund von der Rezeption hatte frei und bediente sich selbst hinter der Theke. Er trug ein gewöhnliches geblümtes Sakko aus hellgrünem Tuch mit orangefarbenem Seidenschal und Manschettenknöpfe, die aussahen wie ein halbes Pfund schwere bunte Glasmurmeln.
Sein Aufzug erinnerte stark an jemanden, der gleich auf einem Ball von Bergmannstöchtern eine Flotte Sohle aufs Parkett legen würde. Mit seiner Diskretion war’s in seinem Stadium nicht mehr weit her, denn er zwinkerte mir angesäuselt zu und lud mich auf einen Drink ein.
“Sind Sie nicht der Bursche, der kürzlich den Rechten gezeigt hat, wo es langgeht, als sie sich illegal im Bundestag einnisten wollten?”, erkundigte er sich nuschelnd und schob mir ein Päckchen Zigaretten hin. “Mit irgendwelchen Mätzchen, um die Öffentlichkeit zu täuschen?“
Ich erklärte ihm, dass ich gerade wieder mal versuchte, mir das Rauchen abzugewöhnen.
“Ihr Bild war in allen Zeitungen.”
“Diesmal bin ich inkognito.”
“Verstehe, das Mädchen in Ihrer Begleitung?”
“Sie meinen die Präsidentin des internationalen Tierschutzbundes?”
“Des internationalen Tierschutz…?”, fragte er sprachlos; sein Mund war halb geöffnet dabei, als lausche er auf seine rasselnden Atemgeräusche.
“Die ist auch inkognito hier”, sagte ich und hielt verschwörerisch meinen Zeigefinger vor die Lippen. “Wir legen größten Wert auf Diskretion – wegen der Anschläge der internationalen Tierhändler-Mafia. Deshalb haben wir uns auch Ihr schnuckeliges kleines Hotel ausgesucht.”
“Verstehe – Sie sind nicht besonders scharf auf meine Gesellschaft”,