Kriminalhauptkommissar Weidlich nutzt die kurze Pause im Vortrag des Gerichtsmediziners für eine weitere Frage:
"Martin, wie einfach oder schwer ist es, einem Menschen so einen großen Nagel durch den Kopf zu treiben?"
"Die Dicke des Schädelknochens beträgt nur 3 bis 5 Millimeter, aber durch die eiförmige Gestalt werden viele Stöße abgeleitet und glücklicherweise aufgefangen. Doch so ein spitzer Nagel sabotiert natürlich diesen, von der Natur vorgesehenen, Schutzmechanismus. Ich vermute, aber Volker bedenke, so ein Mord ist auch für mich Neuland, dass wenige, kräftige Schläge mit einem handelsüblichen Hammer mit einem bis zwei Kilogramm Gewicht ausreichen würden. Aber, was mich hier verwirrt, ist die unglaubliche Brutalität des Tötungsvorganges. Da muss unvorstellbarer Hass oder krankhafte Perversität im Spiel sein. Einen Menschen aus der räumlichen oder zeitlichen Distanz zu töten, ist manchmal verständlich, oder zu mindestens nachvollziehbar, aber dem Opfer ins Gesicht zu sehen und dann immer wieder mit dem Hammer den Nagel tiefer in den Kopf zu treiben, vielleicht noch dem qualvollen Sterben zuzusehen, dass übersteigt auch meine Vorstellungen."
"Danke Martin, wenn du die Verletzungen genau analysiert hast, schickst du uns den Bericht. Über die Tatzeit kannst du also noch keine eindeutigen Angaben machen?"
"Tut mir leid, Volker, dass ich zu diesem Zeitpunkt nicht konkreter sein kann. Aber wir können schon jetzt den Zeitpunkt des Todes ein wenig eingrenzen. Wenn er gestern schon hier gestanden hätte, wäre er auch früher entdeckt worden. Verschiedene Wanderwege führen unter- und oberhalb des Tatortes vorbei und wenn kein Mensch aufmerksam geworden wäre, die vielen Hunde unserer promenierenden Mitbürger hätten sicher angeschlagen. Weiterhin hört ein Herz nach dem Tod natürlich auf zu schlagen und der Druck auf den Blutfluss lässt nach. Der immense Blutverlust des Opfers deutet aber daraufhin, dass er nach der Tat noch eine Zeit lang gelebt hat. Die Blutung ist im Laufe der Nacht zum Stillstand gekommen und das Blut ist bereits verkrustet. Wundflüssigkeit tritt auch nicht mehr aus und die Geschichte mit den Fliegeneiern will ich jetzt nicht erläutern. Maden können sich in der kurzen Zeit nicht bilden. Die Leichenstarre setzt bereits ein, nur die Körpertemperatur kann ich in dieser Position nicht messen. Ohne mich jetzt genau festlegen zu wollen, vermute ich, die Tat geschah gestern Abend zwischen 22 und 24 Uhr und der Tod trat etwa gegen 4 Uhr ein. Mehr geht nun wirklich nicht. Schönen Tag noch."
Volker nickt dem Gerichtsmediziner dankend zu und betrachtet noch einmal den Tatort und die Umgebung.
"Kilian, sprich bitte mit der Schutzpolizei. Ich will, dass kein Wort über den Tathergang an die Öffentlichkeit gelangt. Es werden lediglich der Name und der Tod bekannt gegeben. Sonst können wir morgen die unglaublichsten Horrorgeschichten lesen und tausend Spinner melden sich, um eine Aussage vorzutragen. Auch das Zeugenpaar wird um Stillschweigen gebeten."
Daniela ist inzwischen wieder zurück gekommen, räuspert sich, um die Aufmerksamkeit der Kollegen zu wecken und berichtet:
"Also, mit dem Namen und der Adresse war viel über diese Person im Internet zu finden. In Kürze: Es handelt sich um einen durchaus prominenten Politiker, denn er ist seit 2009 Abgeordneter im bayerischen Landtag und erst 2013 mit über 55% hier in Unterfranken für die CSU wiedergewählt worden. Weiterhin ist er dort Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses. Er hat an der Universität Bayreuth Wirtschaftsrecht studiert und dort mit dem Titel 'Europäisches Umweltzeichen und Welthandel' erfolgreich promoviert."
"Entschuldige den Einwurf, aber ist das nicht dieselbe Universität, an der unser ehemaliger Verteidigungsminister Karl-Theodor von Guttenberg seinen Doktortitel unter fragwürdigen Umständen erhalten hat?"
Kilian grinst spitzbübisch, da er wieder einmal sein glänzendes Allgemeinwissen demonstriert hat. Daniela sieht ihn nachdenklich an und fährt fort:
"Eine Bewertung oder Kritik an seiner Dissertation wird nirgendwo erwähnt. Er ist 52 Jahre alt"
"War"
"Sag mal, du Komiker, darf ich vielleicht auch ausreden?"
"Tut mir Leid, ist nur so rausgerutscht."
Kilians Gesicht bekommt eine leicht rötliche Färbung und Volker registriert mit Schmunzeln, dass dessen Besserwisserei diesmal nicht positiv rübergekommen ist.
"Okay, er ist, oder war, seit 27 Jahren verheiratet. Allerdings leben die beiden Ehepartner inzwischen getrennt. Die Frau heißt Gabriele Semmerteich und wohnt jetzt in Karlstadt, Untere Viehmarktstraße. Er hat zwei Kinder - eine Tochter, Maria, 25 Jahre alt, und einen Sohn, Maximilian, 23 Jahre alt. Die Tochter hat in Münster, Westfalen, Publizistik und Kommunikationswissenschaft studiert. Jetzt arbeitet sie für den Bayerischen Rundfunk, Region Oberbayern. Sie wohnt in München-Unterföhring in der Lindenstraße."
"Wie", platzt es doch wieder aus Kilian heraus, "die Lindenstraße aus der Fernsehserie?"
"Genau, manche Leute haben eben Glück bei der Wohnungssuche."
"Chef", Volker ahnt angesichts dieser hierarchisch formulierten Anrede, dass Kilian gleich einen Herzenswunsch vortragen wird, "darf ich die Tochter befragen?"
"Reicht es nicht, wenn die Kollegen aus München diesen Part übernehmen?", fragt Daniela.
"Dieses Mal stimme ich Kilian zu", erwidert Volker, "denn Kilian kann die emotionale Reaktion der Tochter hinsichtlich des Mordes und seiner möglichen Motive besser beurteilen, wenn er ihr persönlich gegenüber steht. Also gut, wir beiden", und er zeigt auf Daniela und sich, "übernehmen die Ehefrau und den Sohn, und Kilian startet nach München. Betrachte dies aber als Arbeitsauftrag und nicht als Sightseeing-Tour."
"Darf ich dennoch, der Vollständigkeit halber, noch kurz auf den Sohn eingehen?", fragt Daniela. "Maximilian studiert an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg Medizin. Einen entsprechenden Abschluss kann ich nicht finden. Er wohnt weiterhin bei seinem Vater und ist wegen Drogenbesitz und Körperverletzung vorbestraft."
"Scheint mit ja ein wildes Früchtchen zu sein", denkt Volker laut. "Andererseits haben wir alle unsere Jugendsünden begangen und nicht jeder ist deshalb ein abartiger Mörder geworden. Daher möchte ich diese Vorstrafen nicht überbewerten."
Während des Gespräches sind die drei Kommissare langsam wieder den Hang herunter zum Mainufer gegangen und sie treffen einen Mitarbeiter des Kriminaltechnischen Instituts des Bayerischen Landeskriminalamtes:
"Schön, dass ihr uns hier helft. Habt ihr schon irgendetwas Interessantes oder Belastendes für uns gefunden?"
Der Angesprochene, in eine weiße, leicht durchsichtige Ganzkörperhaut gekleidet, schüttelt bedauernd den Kopf:
"Wir sammeln alles, was vielleicht etwas zur Klärung des Tatherganges beitragen kann. Aber bis jetzt haben wir noch nichts wirklich Bedeutsames gefunden, und wenn du mich fragst, die waren so abgebrüht, dass sie mit Absicht unzählige, deutlich sichtbare Spuren hinterlassen haben. Anschließend werden sie Schuhe und Kleidung in irgendeinem Loch vergraben haben und wir müssen uns auf unser Glück oder den berühmten Zufall verlassen."
Volker nickt ihm dankbar zu und wendet sich an den Einsatzleiter der Schutzpolizei:
"Gabriel", die