Der Schutzpolizist verabschiedet sich. Volker hebt, ganz Gentleman, das Absperrband hoch, damit seine Kollegin nicht auf allen Vieren über den Waldboden kriechen muss, und folgt ihr. Nachdem sie den Hang noch gut 50 Meter höher erklommen haben, erkennen sie bereits die ganz in Weiß gekleideten Mitarbeiter der Kriminaltechnik. Dort steht auch ein gut gekleideter, älterer Mann an einem Baum und scheint sich mit seinen Händen an diesem festzuhalten. Da sie die Gestalt nur von der Seite und durch den dichten Urwald sehen, bemerken sie erst aus der Nähe, dass er in dieser aufrechten Position an dem Baum festgebunden ist. Doch dann stoppt Volker abrupt seinen Aufwärtsdrang und unbewusst bremst er auch seine Kollegin mit dem ausgestreckten, rechten Arm. Durch die Stirn des Mannes wurde ein starker Nagel getrieben und sein Kopf so an den Baum geheftet. Ein breiter Streifen Blut ist über das Gesicht und anschließend über Hemd und Hose geflossen. Der Mund ist durch einen Knebel geschlossen, wie er in entsprechenden Erotikshops erworben werden kann, obwohl die Verkäufer sicher eine andere Verwendung erwartet haben. Die weit aufgerissenen, jetzt blinden, Augen zeugen von dem Entsetzen und der Qual, die das Opfer erlebt haben muss. Hautabschürfungen im Gesicht und die jetzt erkennbaren Schädigungen an der Kleidung lassen auf einen Kampf schließen. Daniela atmet hörbar aus und flüstert:
"Wer macht denn so etwas?"
"Ein Männlein steht im Walde ganz still und stumm, es hat von lauter Purpur ein Mäntlein um. Sagt, wer mag das Männlein sein, das da steht im Wald allein, mit dem purpurroten Mäntelein."
Daniela betrachtet erschrocken ihren Vorgesetzten:
"Chef, alles ok?"
"Tut mir leid, Daniela, aber jeder hat so sein Rezept, mit dem Grauen fertig zu werden. Es gehört nun einmal zu unserem Beruf, aus dem Anblick, der Haltung, den Verletzungen und der Umgebung den möglichen Tathergang zu eruieren. Wo andere weglaufen, müssen wir besonders gründlich nachsehen. Manchmal überfallen mich unvermittelt Fragen, was das Opfer vor dem fürchterlichen Ende erlebt, gespürt oder erlitten haben muss. Für mich ist es dann wichtig, dass ich den Toten nicht mehr als Person, sondern als Sache betrachte und dazu fiel mir eben diese Kinderlied ein."
"Verstehe - irgendwie passt es sogar gut zu diesem Szenario."
"Morgen, ihr beiden. Na, ist das ein Anblick?"
Der Kollege Kilian Bleibtreu tritt auf sie zu. Kilian, 34 Jahre, Kriminaloberkommissar, ist seit mehreren Jahren die rechte Hand von Volker Weidlich. Da er noch ungebunden ist, wird er oft von der Einsatzzentrale zuerst zu den gemeldeten Tatorten geschickt. Kilian stellt, im Vergleich zu dem kleinen, aber kräftigen Kriminalhauptkommissar, körperlich glatt das Gegenteil dar. Lang aufgeschossen, 2,02 Meter groß, wirkt er eher schlaksig und unbeholfen. In seiner Freizeit widmet er sich der kunstvollen Beherrschung eines Skateboards und vermittelt in der weit zu tragenden Skaterkleidung den Anschein einer Vogelscheuche. Aber sein jugendliches Aussehen, die oft lachenden, himmelblauen Augen und seine nie versagende Fröhlichkeit haben ihn zum Schwarm der weiblichen Mitarbeiter gemacht. Ungebunden heißt also nicht, dass Kilian allein lebt. Aber er genießt das freizügige Junggesellenleben und hat sich noch nicht für eine bestimmte Person entschieden. Beruflich ist auf ihn hundertprozentig Verlass und so sind Kilian und Volker ein hervorragendes und erfolgreiches Ermittlerteam. Nur manchmal redet er schneller, als er denkt und trifft dann doch hier und da das berühmte Fettnäpfchen. Volker schüttelt hinsichtlich der vorgetragenen Kaltschnäuzigkeit den Kopf und befragt ihn:
"Kilian, kennst du schon den Namen des Toten? Wer hat ihn gefunden? Seit wann ist er tot? Gibt es Spuren?"
"Klar, und wer ist der Mörder. Sonst noch was?"
"Du hast uns an diesem wunderschönen Feiertag aus den lieben Armen der Familie gerissen. Also, was hast du anzubieten?"
Die Kommissare haben im Laufe der Jahre gelernt, gerade bei besonders abstoßenden Mordfällen, durch eine gewisse Art von Zynismus ihre eigene Psyche zu schützen.
"Gefunden haben den Toten zwei ältere Einwohner von Astheim, die hier frischen Bärlauch suchen und schneiden wollten. Ihr habt sicher auf dem Weg hierhin die grünen Flächen dieses beliebten Gewürzes unten in der Nähe des Ufers gesehen. Sie haben zunächst gedacht, der Mann sein betrunken oder verwirrt und sind deshalb zu ihm hochgestiegen. Der Anblick hat sie mächtig geschockt und sie befinden sich jetzt in psychologischer Betreuung durch den Notarzt der Feuerwehr. Ein Raubmord liegt sicher nicht vor, denn das Opfer trägt noch Brieftasche, Portemonnaie, Ring und Goldkette bei sich. Daher kennen wir auch seinen Namen: Günter Semmerteich, wohnhaft in Würzburg am Maasweg."
"Während ihr beiden Totenwache haltet, werde ich mich mit meinem mitgebrachten Netbook ins Internet begeben und schauen, was ich in der Eile über ihn herausfinden kann."
Daniela versucht durch die vorgeschlagene Aktivität wieder in so etwas wie 'normale' Polizeitätigkeit zu gelangen, sucht sich einen passenden Baumstumpf, fügt einen Surfstick in den USB-Anschluss ihres Netbooks ein und startet das Internet mit einer weltweit bekannten Suchmaschine. Währenddessen umrunden Volker und Kilian den Tatort.
"Hände und Füße wurden mit einem handelsüblichen Kletterseil an den Baumstamm gefesselt. Diese Seile kannst du in jedem Baumarkt oder Sportgeschäft kaufen. Ich glaube nicht, dass es eine besondere Marke ist, die uns Rückschlüsse über den Kaufort gestatten. Den Knebel bekommst du in jedem Sexshop, sicher auch keine brauchbare Spur. Wahrscheinlich haben die Täter das Zeug ohnehin über das Internet bestellt. Der Nagel ist da schon interessanter. Um ihn durch den Kopf bis in den Baum zu treiben muss er schon mindestens 30 Zentimeter lang sein. So ein Monstrum wird man wohl nur in Spezialgeschäften erwerben können. Außerdem ist er verkupfert. Vielleicht hilft uns das weiter."
Volker unterbricht Kilians Redefluss kurz:
"Du glaubst, es handelt sich um mehr als einen Täter?"
"Ganz sicher, oder wir suchen einen Supermann. Wir haben bereits unten auf dem Wanderweg Schleifspuren gesichert. Wenn wir die mit seinen Schuhen vergleichen, werden wir sicher eine Übereinstimmung feststellen. Er wurde also wahrscheinlich nicht hier überwältigt. Die Täter haben ihn vermutlich bereits auf dem Feldweg oder früher getroffen, nieder geschlagen und mit Gewalt hierher geschliffen. An seiner Kleidung und den jetzt schon erkennbaren Spuren im Gesicht und am Hals kannst du feststellen, dass er sich sehr wohl heftig gewehrt hat und bereits vor dem endgültigen Mord schlimm misshandelt wurde. Um ihm dann den Nagel durch die Stirn bis in den Baum zu schlagen muss ihm eine zweite Person den Kopf fixiert haben. Schau ihn dir doch an! Er ist schätzungsweise 1,80 Meter groß, wiegt etwa 85 kg und ist recht sportlich. Den musst du erst einmal überwältigen und gegen seine Willen den Hügel hochschleifen. Das hat keiner allein getan."
"Klingt überzeugend. Hoffentlich hat er wirklich heftigen Widerstand geleistet. Vielleicht finden wir verwertbare Spuren der Täter an seiner Kleidung. Aber das ist doch kein normaler Mord. Bei einer Affekthandlung erschlägt, erschießt oder ersticht man das Opfer und versucht hinterher die Leiche irgendwo zu verstecken, meinetwegen mit einem Betonklotz im Main zu versenken. Aber hier wird der Tote praktisch der Öffentlichkeit präsentiert und eine Hinrichtung mittels Nagel durch das Gehirn durchgeführt. Das muss doch irgendeinen Grund haben."
"Ich glaube auch, dass es ein Ritualmord war."
Unbemerkt ist der Gerichtsmediziner Dr. Martin Faust zu den beiden Beamten getreten.
"Guten Morgen, Freund des Mephisto. Kannst du uns noch mehr verraten?", fragt Volker.
"Viel ist es zu diesem Zeitpunkt nicht. Er ist höchstwahrscheinlich im Laufe der Nacht gestorben."
"Wie bitte", unterbricht ihn Kilian, "er ist nicht sofort an dem Durchbohren seines Kopfes und Gehirns durch den Nagel verreckt?"
"Kilian, bitte!"
"Mensch, Volker, das arme Schwein wurde bestialisch hingerichtet. Das hat doch nichts mehr mit Sterben zu tun."
"Darf ich mich kurz einblenden, bevor der verständliche Zorn ihr gefragtes Urteilsvermögen völlig ausblendet, und ihre Frage beantworten. Es gibt den bemerkenswerten Fall des Bauarbeiters Isidro Mejia. Er stürzte am 19. April 2004 von einem Gerüst in Los Angeles, USA, und betätigte im Fallen unbeabsichtigt sein