Während meine Mutter bei Phase eins und zwei äußerlich noch ganz ruhig blieb, hielt es sie bei Phase drei nicht mehr auf ihrem Sitz. Sie begann, am Ufer Kreise zu ziehen.
Phase vier wiederum war von drei Alternativen bestimmt: Polizei, Feuerwehr oder DLRG?
Phase fünf schließlich führte sie zur Sachlichkeit zurück. Sohnemann war auf dem Wasser. Man konnte nur mit einem Boot zu ihm kommen. Rings um sie herum lagen Boote. Man brauchte also nur jemanden zu finden, der so ein Ding bedienen konnte und so einer müsste ja eigentlich aufzutreiben sein.
Also sprach meine Mutter, mich ständig im Auge behaltend, den nächstbesten Menschen an, der wie ein Wassersportler aussah und bestach ihn mit einer erklecklichen Geldsumme, ihren Sohn doch bitte endlich von dem verdammten See herunterzuholen.
Während dieser brave Mann, also aufgefordert, sein Boot klarmachte, war es auf dem See zu einer überraschenden Wendung gekommen.
Mag es die kräftige Sonneneinstrahlung gewesen sein, vielleicht auch die durch die kräftige Ruderanstrengung durch massierten Eingeweide, jedenfalls hatte ich ein menschliches Rühren verspürt und in Ermanglung einer Seetoilette den schnellen Rückzug angetreten.
Zunächst unbemerkt, dann jedoch deutlich sichtbar hatte ich mich dem heimatlichen Ufer bereits soweit genähert, dass meine Mutter den Seenotfall abrupt für beendet erklärte und dem verhinderten Seenotretter für seine Hilfsbereitschaft dankte. Ob sie ihm seinen guten Willen auch finanziell vergolten hat, hat sie mir nie erzählt. Mein Taschengeld jedenfalls blieb ungekürzt.
Später hat sich Mutter dann doch noch zu mir ins Boot gewagt und ich durfte sie, immer in Rufweite des Ufers, in die Bucht von Rottach-Egern rudern, weil sie doch nur zu gern das Haus von Franz-Josef Strauß gesehen hätte. Haus und Politiker blieben jedoch unsichtbar.
Danach hatte ich sie wieder, die Erlaubnis, auch allein Bootstouren unternehmen zu dürfen, wenn ich mich an die Regeln hielt (nicht zu lange, nicht so weit ´raus usw..). Das klappte dann auch recht gut. Wir haben noch mehrere Jahre den Sommerurlaub am Tegernsee verbracht.
Irgendwann kam dann die erste ‘Urlaubsfreundin’, lange Rudertörns zu zweit, und nicht zuletzt ein leichter Sonnenstich (weil ich mich mal wieder nicht an o.g. Regeln gehalten hatte).
Um diese Zeit muss es also passiert sein. Der Wasserbazillus hatte mich oder ich hatte ihn. Der Gedanke an ein eigenes ‘richtiges’ Boot ließ mich nicht mehr los. Allerdings sollte meine Geduld noch auf eine harte Probe gestellt werden und eine Menge Zeit ins Land gehen. Zeit, in der ich meine Schulbildung vervollständigte. Zeit, in der mangels selbiger auch der Drang zum Wasser ein wenig in den Hintergrund geriet, na ja, heute würde man sagen, man passte sich den Sachzwängen an.
Und es kam die Zeit, zu der ich den Floh kennenlernte. Der war ja genauso wasserverrückt wie ich! Und plötzlich war alles wieder da.
Wir waren zusammengezogen. Tschüss Elternhaus. Die erste gemeinsame Wohnung. In Kassel.
Sie als geographisch bewanderte Leser werden wissen, dass sich diese Metropole im nördlichen Hessen befindet und, welch glückliche Fügung, von der Fulda durchflossen wird.
Ab dem Kasseler Stadtgebiet ist die Fulda schiffbar und die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung hält bis Hannoversch-Münden eine Tiefe von 2.50 m vor.
Früher wurde der Hafen Kassel von Lastkähnen und Bockschiffen aller Art angelaufen, doch diese Zeiten sind längst vorbei. Die Fulda ist ein Freizeitrevier, nicht mehr und nicht weniger. Im Sommer herrscht zwischen der ‘Neuen Mühle’ und der großen Staustufe bei Wahnhausen Hochbetrieb, denn die meisten Kasseler Skipper nehmen die Stadtschleuse gerade noch in Kauf, verzichten aber ob der Schleusen Wahnhausen, Wilhelmshausen, Bonaforth und Münden dankend auf die Fahrt zur Weser. Eigentlich weniger wegen der Schleusen, aber diese Wartezeiten .....
Einmal im Jahr ist in Kassel Volksfeststimmung angesagt, denn da ist Zissel. Zissel ist Karneval, Stadtfest und Jahrmarkt, alles in einem, und der Höhepunkt ist der Wasserumzug auf der Fulda. Da geht die Post ab. Da wird alles erst geschmückt und dann bemannt, was schwimmfähig und für eine Fahrt auf dem Wasser mehr oder weniger geeignet ist.
Und so liegen dann über die Toppen geflaggte 40-Fuß-Yachten neben dekorierten Schwimmstegen mit Außenbordmotor und handgepaddelten Einbäumen, tummeln sich leicht angeheiterte Altherren-Ruderer und kreischender Paddel-Nachwuchs zwischen Musikdampfern und Ausflugsbooten. Zur vereinbarten Zeit setzt sich dieser Pulk dann in Bewegung und zieht im Schritttempo die Fulda hinauf.
Freunde von einem Paddelklub hatten uns eingeladen, beim Wasserumzug mitzumachen. Das wäre ´ne witzige Angelegenheit, meinten sie. Und ein Platz in irgendeinem Boot würde sich schon finden lassen.
Wir fanden die Idee toll und machten uns dementsprechend im frühen Nachmittag mit unseren Fahrrädern auf den Weg zur ‘Schlagd’, einer Kaianlage im Stadtgebiet, an der der Paddelklub ansässig war und die sehr günstig genau im Aufmarschgebiet des Umzugs lag. Unser Auto hatten wir zu Hause gelassen, weil einerseits beim Zissel Parkplätze grundsätzlich mitzubringen sind und andererseits dabei gewöhnlich der Alkohol in Strömen fließt. Fahrräder kann man nach Hause schieben, Autos nicht.
Nun werden Sie, lieber Leser, sich vielleicht wundern, dass wir uns bedenkenlos für eine muskelbetriebene Flussfahrt auf einem wenig Vertrauen erweckenden Wassersportgerät haben anheuern lassen. Irrtum.
Dieser Paddelverein, die ‘Alt-Kasseler Paddlergemeinschaft’, hat nämlich außer Generationen hervorragender Kanuten und Kanadierfahrern noch etwas anderes Hochinteressantes hervor gebracht: eine Serie speziell für und im Auftrag der AKP entwickelter Motorboote, die sogenannten Ondo. Initiatoren hierfür dürften wohl alle die Vereinsmitglieder gewesen sein, denen die manuelle Fortbewegung auf dem Wasser irgendwann zu mühsam wurde oder die etwas mehr Platz im Boot brauchten. Weil sich entweder ihre Familie oder ihr Körpergewicht vergrößert hatte.
Die Boote jedenfalls wurden von einer kleinen Werft in Bremen entworfen und ganz aus Holz gebaut und erwiesen sich als absoluter Glücksgriff. Ungefähr fünf Meter lang, dabei nur einen Meter breit, waren sie ganz nach dem Prinzip ‘Länge läuft’ konstruiert, boten Platz für eine vierköpfige Familie inklusive Campinggepäck für zwei Wochen bei erstaunlich geringem Tiefgang. Als Antrieb waren Außenbordmotoren zwischen fünf und fünfzehn PS Leistung vorgesehen. Ausgestattet mit Windschutzscheibe (in Holzrahmen, mit handbetriebenem Scheibenwischer) und Fahrverdeck eigneten sie sich auch für Schlechtwetterfahrten. Vom äußeren Anschein allerdings vermittelte eine solche lange, schmale ‘Zigarre’ einen eher etwas weniger Vertrauen erweckenden Anblick. Und ein solches Fahrzeug war für unsere Zisselfahrt vorgesehen.
Bei unserer Ankunft auf der ‘Schlagd’ war dort bereits der Teufel los. Das kleine Bierzelt befand sich im Belagerungszustand, auf der Fulda drängten sich bereits Wassersportgeräte aller Bauart und in nicht enden wollender Folge zogen Paddelboote nebst ihren Trägern an uns vorbei. Die Bootshausrampe hinunter, auf den Vereinssteg und über die Sliprollen ins Wasser.
Nachdem ich so etwa dreißig Hände geschüttelt hatte und Andrea und mir innerhalb kürzester Zeit mehrere teils halbgefüllte, teils volle Bier- und Schnapsgläser in die Hände gedrückt worden waren, die wir der Einfachheit halber gleich austranken, wollten wir uns erst mal um unsere Mitfahrgelegenheit kümmern.
Da lag sie, Clubkamerad Klaus’ Ondo, Luddel hieß sie, und Klaus hatte den Platz an der Steuerpinne bereits mit Beschlag belegt. Er winkte uns zu: „Setzt euch auf die Bank direkt vor mir“, meinte er, „wir kriegen nämlich noch mehr Zuladung und ich muss das Gewicht gescheit verteilen.“
Andrea sah Klaus schief an: „Wer fährt denn noch mit?“
„Weiß ich noch nicht. Da haben sich noch ´n paar Leute angemeldet.“
Oh Mann, dachte ich, hier geht´s zu wie auf einem Ausflugsdampfer.
Der Floh stieß mich an. „Guck nicht so skeptisch. Der Klaus weiß schon, was er tut.“