Hier nun saßen zwei ausgewachsene Männer. Sie spielten Domino. Der eine kugelrund mit ebensolcher Halbglatze und weißem Haarkranz, der zu einem Pferdeschwanz gebunden war. Echt schräg. Verschmitzt lächelte er sein Gegenüber an.
„Diesmal hab ich di!“ Dann setzte er den letzten Stein und grinste sein Gegenüber an. Der jammerte laut:
„Merde, que vergogna“
„Scheiße sagt man net, au net auf Portugiesisch und außerdem isch es keine Schande, wenn man verliert. Platon sagt: Beim Spiel kann man einen Menschen in einer Stunde besser kennenlernen als in einem Gespräch im ganzen Jahr.“ feixte der Kleine.
Sein junger Kontrahent, der hochgewachsene, schlanke, bildschöne Bursche mit schulterlanger, dunkler Mähne schob die Steine auf dem Brett unsanft in eine Blechdose. Seine buschigen Augenbrauen trafen sich fast in der Mitte bei der steilen Stirnfalte. Grimmig sah er aus und doch wie ein Model für Calvin Klein, Tom Hilfiger oder Boss Boxer Short. Auffallend seine wässrigen, hellgrünen Augen. Und olivbraun war der gut aussehende Kerl, dagegen fühlte sich mein Moritz bleich wie ein unbeschriebenes Blatt Papier. Neben dem tollen Burschen bekam Bleichgesicht Moritz direkt Komplexe mit seinen Sommersprossen Da half auch der topmodische Undercut, den er sich in Madrid zugelegt hatte, nichts.
„Ola, bom dia!“ traute Moritz sich jetzt zu rufen. Er ließ vorsichtig seinen schweren Rucksack vom Rücken auf den Boden gleiten. Einen Träger hielt er noch zögernd in der Hand. Vielleicht war er falsch hier.
Was machten die beiden eigentlich hier auf der Quinta? Es war doch nur die Rede von mir, Olivia und meinen Eltern gewesen. Moritz war ratlos.
„Boa tarde.“ sagte der Große. Er drehte sich zu Moritz und lächelte freundlich. Dabei schob er die restlichen Dominosteine klappernd über den Rand des altersschwachen Tischchens in die rostige Dose.
„Hallo, wer bisch denn du?“ fragte der andere auf Deutsch.
„Ich bin Moritz, der Freund von Olivia!“
Der kleine, wohlgenährte stand von seinem klapprigen, verrosteten Stuhl auf und kam ihm entgegen, sein knackbrauner Bauch ragte frech über die lila grün gemusterte Bermuda.
„Wo komsch du denn her?“ fragte er nicht direkt unfreundlich, leicht badisch und reichte ihm die Hand.
Das muss Olivias Großvater sein, schoss es Moritz durch den Kopf. So viel er wusste, war der Opa doch schon lange im Meer verstreut worden. Die abgefahrene Geschichte von Opas Urnenbeisetzung auf dem Meer hatte ich ihm erst kürzlich erzählt. Schließlich hat jeder zwei Großväter, dachte sich Moritz. Dieser hier war jedenfalls quietschlebendig und schwamm nicht als Fischfutter in der See.
Moritz ließ sich auf den Rand der Zisterne fallen. Sein schwerer Rucksack plumpste auf seinen großen Zeh. Mein Freund hatte jetzt nur noch eins: Durst.
„Du häsch doch sicher Durst? Oder ?“
„Gut beobachtet! Ich könnt saufen wie ein Dromedar!“
„Na, den Buckel hast ja scho abgworfe. Jetzt gibt’s was, was nichts für Kamele isch!“
Der kleine Mann winkte näher zu sich her: „Des isch übrigens der Tiago. Komm ich schenk dir was ein.“
Der hübsche Kerl, neben dem Moritz sich irgendwie mickerig vorkam, ging auf Moritz zu und gab ihm artig die Hand und nickte:
„Ich bin Tiago!“ Er hatte eine tiefe, warme Stimme und einen leichten portugiesischen Akzent.
„Moritz!“ erwiderte mein verblüffter Freund, stand ebenfalls auf und reichte ihm seine Hand.
„Ja, sin mer denn in der Tanzstunde? Ich bin übrigens der Paule!“ lachte Paul.
Paul griff den Krug mit einem zitronengelben Saft voller Orangenstückchen und schenkte Moritz ein großes Wasserglas voll. Moritz stürzte das Zeug wie ein Verdurstender runter.
„Hoppla, das ist ja weiße Sangria.“ Es fuhr Moritz wie ein Blitz in die Beine. Die Knie wurden Wackelpudding. Das zweite, kühle Glas machte wieder klar. Nach dem dritten Glas war die Welt in Ordnung und er fragte nach mir.
„Die Dame habe ihre Flug verpasst, wann die komme isch noch nicht raus. Aber du kannsch ruhig hier bleibe. Wir müsse noch eine Revanche austrage.“
„Wenn du verlierst, gibst Spätzle! Freu mich schon.“ lachte Tiago. Paul grinste ihn an: „Heut verliersch du, dann gibt’s Cataplana!“
„Cataplana? Was ist das?“
„Also“, lachte Tiago, „Cataplana ist ein portugiesisches Nationalgericht und wir spielen hier ums Essen. Wer verliert, muss kochen!“ Tiago hob sein T-Shirt und zeigte auf den winzigen Hügel unterhalb des Bauchnabels „Da schau, meistens gewinn ich und mein Bauch kann Reserven für schlechte Zeiten anlegen!“
„Heut bin i am Zug!“
Paul schenkte Moritz nochmal nach. „Weisch, wir sind hier so eine Win-Win Gemeinschaft: Tiago bringt mir Portugiesisch bei, ich lern ihm Deutsch!“
„Besser wohl schwäbisch! Das ist doch kein Deutsch, was du sprichst?“
„Na ja, schwäbisch geht anderster! Jetzt hör emal, ich spreche Hochdeutsch mit höchstens nem kloine badischen Akzent!“
Moritz konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. „Wenn das Hochdeutsch ist, fress ich einen Besen!“
Paul fixierte meinen Freund mit zugekniffenen Augen und erklärte: „Hörsch, des isch allenfalls badisch! Badisch! Des kapiert ihr Schnellschwätzer einfach nicht!“
Ich glaub, das war Moritz im Moment ziemlich egal. Dass Tiago eigentlich Priester war und warum er Deutsch auf Badisch lernen wollte, wusste Moritz da noch nicht.
Wie ich ihn kannte, trank er noch ein Glas, ließ sich in den Schatten fallen und schlief auf der Stelle ein. Mein geliebter Moritz! Er hatte schon wenige Tage nach unserem ersten Kuss behauptet, dass er mich heiratet. Er hatte mich gar nicht gefragt, sondern es einfach hinausposaunt bei seinen Freunden.
Ich war mit diesem Gedanken echt überfordert. Heiraten??? Die Schule hatte ich ja nicht mal fertig. Und studieren wollte ich. Ich wusste zwar noch nicht was, ich wollte nicht so früh wie meine Mutter heiraten. Auch Moritz‘ Mutter hatte das Studium abgebrochen und geheiratet weil ein Baby unterwegs war. Und dann hat sie in rascher Folge noch drei weitere Söhne und zum Schluss ein kleines Mädchen bekommen. Moritz war der dritte.
Der Vater von Moritz ist Geschichtsprofessor und unglaublich konservativ. Der ist noch einer von der Sorte: Eine Frau gehört ins Heim und an den Herd und muss sich mit der Aufzucht und Pflege des Nachwuchses beschäftigen. Nicht auszudenken, wenn mein süßer Moritz auch so gepolt ist.
Das mit dem Traualtar kann Moritz sich vorerst aus dem Kopf schlagen. Auch wenn ich so verliebt in ihn bin und eigentlich den ganzen Tag mit ihm rumhängen möchte! Heiraten oder gar an Kinder denken: unvorstellbar! Das hatte ich meinem Schatz zwar schon geflüstert, doch auf dem Ohr war er taub.
Seine Eltern habe ich beim letzten Straßenfest kennengelernt. Der Vater groß, dick und polternd, die Mutter klein, zierlich, abgearbeitet. Sie begrüßte mich mit einem herzlichen Lächeln. Ein Gitternetz feinster Fältchen überzog ihr freundliches Gesicht. Die grauen Haare trägt sie streng nach hinten gekämmt und zu einem Dutt gesteckt. Haushalt und Kinder können nicht die Erfüllung ihres Lebenstraumes gewesen sein, sonst hätte sie sich nicht vor zwei Jahren in der Senioren-Uni eingeschrieben. Diese unscheinbare, nette Frau ist das ganze Gegenteil meiner schicken Mama und ich glaube, darum hing Moritz in letzter Zeit auch mehr bei uns, als bei sich zu Hause rum.
Ich liebe Moritz, das mit dem goldenen Ringlein, kann er sich erst mal abschminken. Das ganze Leben liegt noch vor mir.