Lysias kümmerte sich rührend um Metaneira, schaute ab und zu in den Wagen und fragte, ob sie einen Wunsch hätte. Stets war es Nikarete, die antwortete und Lysias mit unverschämten Forderungen nach einer weiteren Decke, einer Rast oder etwas zu Essen belästigte. Obwohl sie auf eine Sklavin verzichtet hatte, war Nikarete nicht bereit Einschränkungen in ihrer Bequemlichkeit hinzunehmen. Lysias, dessen fortgeschrittenes Alter und bewegtes Leben ihm eine gewisse Ruhe des Gemüts verliehen hatten, erfüllte klaglos die Wünsche Nikaretes.
Erst als sie den Isthmus von Korinth erreichten, die Landenge, über die Schiffe von einem Hafen zum anderen gezogen wurden, verstummte Nikarete für eine Weile. Die großen Schiffe, teilweise zerlegt und auf Schlitten von unzähligen Männern und Ochsen gezogen, boten einen gewaltigen Anblick und entlohnten zumindest die Mädchen für die Unbequemlichkeit auf dem holprigen Wagen.
Neaira beneidete Metaneira, die ihre Nächte in Lysias Wagen verbringen durfte, denn Nikarete war nicht nur am Tag unerträglich – sie schnarchte auch mit der Inbrunst von zwei Männern in der Nacht.
In diesem Sinne war besonders Neaira froh, als sie am vierten Tag Athen erreichten und die Stadttore passierten. Sobald Neaira den ersten Blick auf Athen warf, war sie von der Polis verzaubert. Die weißen Gebäude mit den großen Säulenhallen, die Tempel, auf deren Stufen bunte Blüten zu Ehren Demeters gestreut worden waren, Priester, die eifrig die bronzenen Standbilder vor den Tempeln auf Hochglanz polierten. Die Stadt besaß einen Herzschlag, der so anders war als der von Korinth. Es war ein Herzschlag des Aufbruchs, der Erneuerung und der Freude. Wenn Korinth ein alter Mann war, dessen Herz langsam und gemächlich schlug, so war Athen das aufgeregte Herz eines Mädchens, das voller Vorfreude auf den Geliebten wartet. Metaneira und Neaira drückten sich am hinteren Teil des Wagens herum und konnten nicht genug von den Straßen Athens zu sehen bekommen, in denen die Vorbereitungen für die eleusinischen Mysterien voranschritten. Gut gemästete Opfertiere mit glänzendem Fell und Stiere mit vergoldeten Hörnern wurden zu den Tempeln geführt, die Händler boten Figuren der Demeter oder glücksbringende Amulette an. Lysias ließ den Wagen anhalten und kaufte von einem der Händler zwei Demeterfigürchen, die er Metaneira und Neaira schenkte. Sie kramten in ihren Sachen nach Bändern und banden sich die Schutzamulette gegenseitig um. Nikarete übersah mit verkniffenem Mund, dass Lysias nur den Mädchen ein Amulett geschenkt hatte. Es war offensichtlich, dass Nikarete nicht erwünscht war auf dieser Reise. So wie Nikarete Athen missmutig beäugte, schloss Neaira die Stadt mit ihren offenen und luftigen Straßen, den vielen Gebäuden, Tempeln und Läden schnell in ihr Herz. Korinth war zwar auch eine belebte Polis, doch Athen schien trotz der bevorstehenden Festtage vergleichsweise geordneter als Korinth. Als kleines Mädchen an der Hand ihrer Mutter hatte sie Korinth beeindruckt. Jetzt meinte Neaira, dass Korinth im Vergleich zu Athen schwermütig war.
Lysias erklärte Neaira, die ihn immer wieder allerlei Dinge fragte, dass Athen durch sein demokratisches Gesinnungsbild Blüte und Wohlstand hervorbrachte. „Dies sieht man der Polis an. Korinth ist immer wieder in Wirren und Kriege demokratischer Machthaber und Aristokraten geraten. Nicht umsonst habe ich mich in Athen niedergelassen.“ Lysias war der Stolz auf seine Heimat anzusehen. Seine freundlichen Augen schienen zu leuchten, wenn er von Athen sprach.
Nikarete, die Lysias Begeisterung nicht verstand, winkte ab. „Solange ihr Herren nur oft genug nach Korinth kommt, soll es mir egal sein, wo ihr eure Häuser baut.“ Sie hatte kein Auge für die Schönheit Athens. Für sie galt nur die klingende Münze als schön, das goldene Geschmeide und ein kostbares Gewand.
Auch Lysias Großmut schien langsam überstrapaziert, denn er beachtete Nikarete nicht weiter. Sie verdarb mit ihrer mürrischen Art die Vorfreude und gute Stimmung. „Ihr werdet bei einem Freund von mir untergebracht sein, der im Hafen von Piräus ein Haus hat“, erklärte er, um ein unverfängliches Thema anzuschlagen. Metaneira nickte. Lysias hätte sie aus Rücksicht auf seine Gattin niemals in sein eigenes Haus gebracht. Trotzdem zeigte er sich beflissen, die Frauen auf dem Weg zum Haus des Freundes auf einige Sehenswürdigkeiten hinzuweisen, wie den Tempel des Hephaistos auf der Agora und den beeindruckenden Tempel der Athene auf der Akropolis, der ganz Athen überragte.
„Ich will versuchen, euch während eurer Zeit in Athen so viel wie möglich zu zeigen“, sagte Lysias lächelnd, da die Freude der beiden Mädchen ihm gefiel. „Aber heute sind wir alle zu müde und brauchen nur noch ein gutes Mahl und einen vollmundigen Wein im Haus meines Freundes Philostratos. Er ist wie ich ein Metöke, ein freier Fremder in Athen, aber bekannt für seine Gastfreundschaft.“
Philostratos, ein Mann, der noch keine dreißig Jahresumläufe zählte und demnach noch nicht den Bart der älteren Männer trug, hieß sie herzlich in seinem Haus willkommen. Neaira fühlte sich sofort wohl, denn das helle und nicht überladen eingerichtete Haus spiegelte das Wesen seines Besitzers wieder. Neaira mochte sowohl Philostratos als auch sein Haus, sobald sie es betreten hatte. Nikarete ließ ihre gierigen Augen über die Einrichtung wandern, um den Wohlstand des Besitzers abzuschätzen. Sie schien ein wenig ratlos. Für Nikarete musste Wohlstand sichtbar sein – durch funkelnde Geschmeide, üppige Einrichtung und kostspielige Gewänder. Philostratos schien ihr zu schlicht, um ein reicher Mann zu sein. Neaira musste über ihre plumpe Art der Einschätzung innerlich lachen.
Lysias musste seinen Freund darüber unterrichtet haben, welche Art Frauen er in sein Haus brachte, doch Philostratos ließ sich nichts anmerken und fragte höflich nach, ob die Frauen alleine, wie es für Bürgerinnen üblich war, ihr Mahl in den Frauengemächern einzunehmen wünschten.
„Bei Zeus, nein! Ich brauche Gesellschaft, sonst langweile ich mich zu Tode!“ Nikarete schien über seinen Vorschlag entsetzt zu sein.
Philostratos überhörte ihre Antwort mit einem höflichen Nicken und wies die Diener an, das Gastmahl für alle gemeinsam im Andron aufzutragen. Obwohl vor allem Nikarete die ruhige und gemessene Atmosphäre in Philostratos Haus langweilte und sie die abendlichen Feste ihres eigenen Hauses vermisste, konnte sie nichts dagegen unternehmen, dass Lysias sich früh mit Metaneira zurückzog; immerhin hatte er für diese Reise bezahlt und somit auch für die Zeit mit seiner Geliebten.
Neaira und Nikarete blieben allein mit Philostratos zurück, der sich als vorbildlicher Gastgeber zeigte, die Sklaven dafür sorgen ließ, dass eine neue Amphore Wein gebracht wurde und immer wieder bei Nikarete nachfragte, ob er noch Früchte oder Brot auftragen lassen sollte. Neaira gefiel seine aufmerksame Art. Sein Gesicht blieb stets freundlich, als erwarte er einen Wunsch seiner Gäste, den er erfüllen dürfte. Der Abend wurde immer später. Nikarete nahm sich hier und da etwas kaltes Fleisch und Brot, ließ sich ihre Weinschale nachfüllen, machte jedoch keine Anstalten sich zurückzuziehen. Sie saß noch immer am Tisch, als der Mond bereits hoch am Himmel stand und die Feuerbecken am Erlöschen waren. Philostratos, der sich gähnend die Hand vor den Mund hielt und Nikarete damit ein höfliches Zeichen geben wollte, dass er gerne selber zu Bett gegangen wäre, wurde von ihr geflissentlich ignoriert. Stattdessen beschwerte sie sich darüber, dass Philostratos keine Musikantin in seinen Diensten beschäftigte, da sie gerne ein paar Lieder auf der Kithara gehört hätte.
„Ich hoffe, dass die Mysterien unterhaltsamer sind als der heutige Tag.“ Nikarete sagte es, als erwarte sie für ihre kränkenden Worte Zustimmung von ihm.
„Gewiss, Herrin Nikarete, die Festlichkeiten sind ein beeindruckendes Schauspiel.“
Neaira fragte sich, warum Philostratos freundlich blieb. Nikarete bot ihm allen Grund, seine Gäste aus dem Haus zu werfen. Nikarete nickte gelangweilt, während Philostratos zu einer weiteren Erklärung ausholte, froh darüber, ihr ein unterhaltsames Gespräch bieten zu können. „Die Feste