„Ach, was interessieren mich die Mysten“, unterbrach Nikarete ihn gelangweilt.
Philostratos hüstelte peinlich berührt und griff nach seiner Weinschale. Offensichtlich wusste er nicht mehr, was er noch sagen sollte.
„Mich interessieren sie aber“, beschloss Neaira mutig, sich in das Gespräch einzubringen. Ihr tat der freundliche Philostratos leid.
Mit einem dankbaren Ausdruck in den Augen wandte er sich Neaira zu, die er das erste Mal überhaupt wahrzunehmen schien. Er erzählte ihr von dem sechstägigen Fest, das in einem Festzug nach Eleusis enden sollte, wo die Mysten im Anschluss ihre Einweihung erhielten.
„Demeter ist eine uralte Göttin“, bekannte Neaira freimütig, da sie sich an Hylas Unterweisungen erinnerte „Sie hat niemals geheiratet wie die anderen Götter, und sie steht für den Urbeginn des Weiblichen.“
Philostratos staunte und zeigte das erste Mal an diesem Abend so etwas wie Interesse. Seine Müdigkeit schien verflogen. „Du bist klug, Neaira ... und du hast vollkommen recht. Ich hätte nicht gedacht, dass ein so junges Mädchen gebildet ist.“ Aufkommende Bewunderung für sie klang in seiner Stimme mit. Auch Nikaretes Langeweile schien von einem Augenblick auf den anderen verschwunden. „Ich beschäftige Hauslehrer für meine Töchter und ermutige sie, fleißig zu lernen.“
„Ach“, antwortete Philostratos überrascht und mochte an diesem Abend kaum noch den Blick von Neaira nehmen.
Am nächsten Tag begleitete Philostratos Neaira, Nikarte, Lysias und eine aufgeregte Metaneira in die Stadt, wo sich Metaneira, in einen weißen Chiton gekleidet, zum Zug der Mysten einfinden sollte. In ihrer Hand hielt sie ihren Pilgerstab, an dem ein Kleiderbündel für die Einweihung befestigt war. Neaira bekam nicht genug vom Anblick der Festlichkeiten, während sie sich durch die bevölkerten Straßen Athens schoben. Die unterschiedlichsten Düfte - Weihrauch, Blüten und allerlei Leckereien, wie in Honig geschwenkte Früchte und geröstetes Brot zogen in ihre Nase. Hätte sie Geld besessen - Neaira hätte sie sich sofort etwas gekauft. Am liebsten wäre sie überall stehen geblieben um sich in Ruhe umzusehen. Doch Lysias drängte zur Eile, damit Metaneira den Aufbruch der Mysten nicht verpasste. Trotzdem antworteten Lysias und Philostratos gerne auf Neairas neugierige Fragen; einzig Nikarete konnte der freudigen Ausgelassenheit nichts abgewinnen und trottete in ihren mit goldenen und silbernen Troddeln bestückten Gewändern gelangweilt neben ihnen her. Ihr übertrieben verschwenderischer Aufzug blieb nicht unbeachtet. Die Menschen begannen zu tuscheln oder obszöne Gesten in ihre Richtung zu vollführen. Neaira, in einen schlichten Peplos und Mantel gekleidet, sowie Metaneira, die bereits ihr Mystengewand trug, sahen zu Boden, wenn die Menschen ihnen nachstarrten. „Selbst hier muss sie zeigen, wer sie ist ... und was wir sind.“ Neaira war verärgert und wünschte sich nichts sehnlicher, als unbeachtet zu bleiben.
Als Metaneira sich von Neaira verabschiedet und in den Festzug eingereiht hatte, schlug Philostratos überraschend vor, die Statue der Athene auf der Akropolis zu besuchen. Während Neaira am liebsten sofort losgezogen wäre, sah Nikarete ihn an als hätte er einen schlechten Scherz gemacht. Die Troddeln an ihren Gewändern zitterten, so sehr empörte sie Philostratos Vorschlag.
Sie glaubt, Metaneira würde den Festzug nutzen, um fortzulaufen – und ich wünschte, sie würde es tun! Neaira hätte zu gerne selbst in diesem Zug gestanden, denn dann wären Nikaretes Befürchtungen begründet gewesen.
„Ich werde die arme Metaneira doch nicht allein unter all diesen Menschen lassen.“ Nikarete wies in die Runde als wären alle, die gekommen waren den Zug der Mysten zu beobachten, Diebe, Mörder und Mädchenschänder.
„Nun, Herrin Nikarete, vielleicht möchte zumindest Neaira den Tempel der Pallas Athene besuchen? Mir scheint, sie besitzt einen wachen Verstand. Sicherlich würde es ihr gefallen, etwas mehr von Athen zu sehen. So kannst du ein wachsames Auge auf Metaneira haben und sicher sein, dass deine Tochter unter meiner Aufsicht steht.“ Philostratos hatte den Vorschlag arglos vorgetragen.
Nikaretes Zorn verwandelte sich in Ratlosigkeit. Lysias bezahlte sowohl Neairas als auch Metaneiras Reise, und Philostratos ließ sie kostenlos in seinem Haus wohnen. Immer wieder sah sie von Metaneira, die sich zum Aufbruch bereit machte, zu Neaira, die an der Seite Philostratos stand und erwartungsvoll die Luft anhielt. Es war nicht zu übersehen, dass sie mit sich selbst einen Kampf ausfocht. Dann nickte sie zögerlich, wenn auch unwillig. „Da ich weiß, dass meine geliebte Tochter in deiner Obhut gut aufgehoben ist, werde ich es erlauben und statt dessen bei Metaneira bleiben, die vergleichsweise schutzloser ist in diesem Gewimmel.“
Neaira hätte vor Freude aufschreien wollen, doch natürlich tat sie es nicht. Stattdessen verbarg sie ihr Lächeln wie gewöhnlich hinter einer Miene des Gleichmuts und ließ die nervöse Nikarete mit Lysias zurück. Dieser kniff Neaira ein Auge, wie um ihr zu zeigen, dass er ihr diesen Tag ohne die Fuchtel Nikaretes von Herzen gönnte.
Philostratos wies immer wieder auf Sehenswürdigkeiten, während sie durch die Straßen schlenderten und erklärte Neaira, dass die Athener den großen Tempel der Athene einst als Dank für den Schutz der Göttin, den sie ihnen in einem Krieg gegen die Perser gewährt hatte, erbaut hätten. „Wie Aphrodite die Schutzgöttin von Korinth ist, wacht Athene über Athen und diejenigen, die in dieser Polis leben. Du wirst ihr einen Obolus opfern müssen. So gebietet es der Brauch.“ Er lachte sie so freundlich an, dass Neaira wagte zurückzulächeln. Die Anspannung fiel von ihr ab. Es gab sie anscheinend doch, die freundlichen Männer. Metaneira hatte recht behalten. Lysias war freundlich, und Philostratos war Lysias Freund. Ein freundlicher Mann war eben mit freundlichen Menschen befreundet.
Bei einem Händler kaufte Philostratos ihr eine Handvoll Datteln, die wunderbar süß schmeckten. So habe ich tatsächlich noch meine Datteln bekommen – wenn ich auch viele Jahre warten musste, dachte sie glücklich.
Als sie den großen Tempel Athenes auf der Akropolis erreichten, hielt Neaira staunend die Luft an. Sie kam sich winzig und unbedeutend vor im Angesicht der Göttin. Die weißen Stufen und die riesige Säulenhalle, die sich vom wolkenlosen blauen Himmel abhoben, boten aus der Nähe betrachtet einen noch beeindruckenderen Anblick wie aus der Ferne. Philostratos, der Neairas Unsicherheit bemerkte, begleitete sie in den Tempel Athenes und drückte ihr einen Obolus in die Hand, den sie der Göttin opferte und klangvoll in eine Bronzeschale fallen ließ. Ein alter Priester sprach einen Segen und erlaubte Neaira dann, ihr Gebet an die Göttin zu richten. Wie weise sie wirkte, ihren Schild in der Hand und einen Kriegshelm auf dem gelockten Haar. Es wunderte Neaira nicht, dass Athen so schön war – wurde es doch von einer so starken Göttin bewacht. Neaira sprach ihr Gebet und dankte Athene für den schönen Tag. Sie ließ sich Zeit, und Philostratos drängte sie nicht, sich zu beeilen.
Neaira fühlte sich immer wohler an der Seite Philostratos, und er schien seinerseits nicht müde zu werden ihr kleine Gefälligkeiten zu erweisen. Ab und an warf Neaira ihm verstohlene Blicke zu. Es schien ihr bei näherem Nachdenken unmöglich, dass Philostratos ihr Freundlichkeit ohne Hintergedanken entgegenbrachte. Jeder Mann, der einem Mädchen Großzügigkeit und Freundlichkeit entgegenbringt, begehrt die Freuden des Lagers mit ihm, erinnerte sie sich an Nikaretes Worte. Dies war die allererste Regel, welche die Mädchen lernten, wenn sie in Nikaretes Haus kamen. Tatsächlich hatte Neaira in ihrem Leben bisher nichts Gegenteiliges erfahren. Trotzdem blieb Philostratos der höfliche und aufmerksame Begleiter des Tages. Egal wie sie es auch drehte und wendete – sie fand nichts Falsches an ihm und seinen Absichten.
Als die Sonne sich rot färbte, machten sie sich auf den Weg zurück zur Agora. Philostratos lächelte entschuldigend. „Deine Mutter wird sonst noch ungenießbarer sein, als sie es ohnehin schon ist. Aber ich hoffe, ich konnte dir eine Freude machen.“
Neaira horchte auf. Jetzt würde er seine Forderungen stellen, betonen, wie freundlich er zu ihr gewesen war und darauf bestehen, dass sie ihm seine Freundlichkeit mit Gefälligkeiten besonderer Art vergalt. Doch Philostratos sagte gar nichts, schlenderte neben ihr her und schien zu grübeln. Erst nach einer ganzen Weile begann er wieder