Die beiden Beamten öffneten die Flügeltür und beförderten Calvaro in das gleissende Licht des Gerichtssaals…
Etwa zur selben Zeit beobachtete der SBB-Dispoleiter Franz Odermatt im Zentralstellwerk beim Zürcher Hauptbahnhof die Monitore der Videoüberwachung des Bahnhofs Altstetten.
Eine junge Frau, kaum 25, stand am Bahnsteig Gleis 3 und rauchte. Sie kam Odermatt irgendwie bekannt vor. Er warf einen Blick zum überdimensionalen, mit Linien durchzogenen Gleisplan, der auf einem in der Wand des Büros eingelassenen Monitor auftauchte. Er zeigte analog wie die Flugbewegungen bei Skyguide die Zugbewegungen auf jedem einzelnen Schienenstrang in der Umgebung von Zürich an.
Odermatt drehte sich um und schaute aufs Gleisfeld. Es hatte wieder zu schneien begonnen. Jeder Arbeitsplatz war mit dem Rücken zum Gleisfeld des Vorbahnhofs gewandt.
Endlich realisierte der Dispoleiter, wer diese Frau war: Die Mairiakis, eine Halbgriechin oder so; er hatte mal im selben Block wie sie an der Nebelbachstrasse im Seefeld beim Bahnhof Tiefenbrunnen gewohnt. Ihr Anblick liess das Blut in seinen Adern gefrieren. Unfreiwillig wurde er von den schwärzesten Stunden seines Lebens eingeholt, obwohl er bei unzähligen Kirchenbesuchen gewünscht hatte, nicht mehr daran erinnert zu werden.
Seit ihrem Einzug hatte er sie begehrt, doch sie wollte ihm nicht einmal ihren Vornamen verraten. Die Sehnsucht nach ihr begleitete ihn bis in den Schlaf. Wie oft hatte er in seinen Träumen ihren Namen gerufen, so oft, dass ihn seine Frau verlassen hatte und jetzt den Briefträger des Quartiers bumste. In jedem seiner Träume war sie ihm erschienen, die Bewegung ihrer Unterarmmuskeln, wenn sie die Einkaufstüten in ihre Wohnung schleppte, die gespannte Bluse über ihren üppig geformten Brüsten, ihr Lächeln, einfach alles.
Als Odermatt mit dem Zentralschlüssel – er war zu jener Zeit nebenberuflich Hausmeister des Gebäudes gewesen – einmal in Mairiakis’ Wohnung eingedrungen war, hatte sie ihn erwischt und im Handumdrehen wegen Stalking verklagt. Odermatt hatte gedacht, dass sie einkaufen war – sie hatte auf sein Klingeln hin nicht geöffnet – und wollte herausfinden, welche Vorlieben die Mairiakis hatte und ihr mit einer solchen beschenken wollte, um ihr Herz zu erobern. Doch – sie war nicht einkaufen gegangen, sondern war unter der Dusche gewesen und hatte ihn – nur mit einem Handtuch um die Hüfte – beim Durchsuchen ihrer DVD-Sammlung ertappt. Nur dank einer grosszügigen Vergleichszahlung abseits des Gerichtes und dem Versprechen, sich von nun an nicht mehr auf weniger als 100 Meter zu nähern, war er einem Gerichtsverfahren entgangen. Odermatt musste ausziehen und übersiedelte in eine Wohnung im Hardau-Hochhaus. Das war vor einem knappen Jahr gewesen. Seitdem hatten sie nie mehr etwas voneinander gewusst. Jede Woche ging er seitdem in die St. Antoniuskirche beim Kreuzplatz und leistete Abbitte. Zunächst im Beichtstuhl, wo er vom Pfarrer jeweils zu unendlich vielen Vater unser oder Ave Marias verdonnert wurde, danach in der sonntäglichen Messe. Odermatt, ursprünglich aus dem Kanton Nidwalden stammend, war katholisch getauft worden und hegte eine gewisse Sympathie für Opus Dei. Jede bei der Kommunion eingenommene Hostie liess das Schuldgefühl ein wenig sinken. Aber wenn es nicht reichte, zog er sich jeweils vor dem Zubettgehen vor einem von Kerzen gesäumten Altar aus und geisselte sich mit einer selbstgebauten Peitsche selbst. Die Schmerzen der Narben und Wunden, auch durch die Reibung des Rückens am Stoff der Kleidung, verfolgten ihn bis in den Arbeitsalltag.
Die Frau warf ihre Zigarette achtlos auf den Bahnsteig, ging schnurstracks auf die Geleise zu und sprang von der Bahnsteigkante mitten aufs Gleis. Passanten näherten sich und schrieen.
Odermatt traute seinen Augen kaum. Er schaute zum Gleisplan. Ein blinkender roter Punkt signalisierte die Einfahrt eines Zuges in den Bahnhof Altstetten.
Geistesgegenwärtig griff Odermatt zum Telefon.
“Leitet den IC aus Brig in Altstetten auf die 4!“, bellte er in den Hörer.
„Was?“, schrie er nach einer kurzen Pause, die jedoch wie eine Ewigkeit schien. „Der hat die Weiche schon passiert?!“
Wütend schlug der den Hörer auf die Gabel und verdeckte wie in Trance mit der rechten Hand seine Augen, als könnte er so dem fatalen Ereignis ausweichen, das sich gleich auf den Monitoren abspielen wird.
Mairiakis stand immer noch auf den Gleisen. Sie hatte die Arme ausgebreitet und den Kopf in den Nacken gelegt. Wie eine Christusstatue sah sie aus, als der IC-Doppelstockzug mit nahezu 125 Kilometern pro Stunde in den Bahnhof Altstetten brauste und die Frau innert Sekundenbruchteile erfasste. Nach 10 Sekunden hatte der Zug den Bahnhof passiert und das Gleisbett war leer. Wenig später setzte der Lokomotivführer des Zuges eine Schnellbremsung, um den Zug zum Stillstand zu bringen und der Gleisplan meldete mit einem durchdringenden Piepsen eine Störung beim Bahnhof Altstetten.
Sie hätte sich mit der Situation in den vergangenen Wochen nicht erfolgreich auseinandersetzen können und habe diesen Schritt aus Liebe zu ihrem verstorbenen Freund getan, um sich mit ihm im Jenseits zu vereinigen. Diese Begründung für den wohl mutigsten Schritt ihres Lebens fanden die Angehörigen der streng gläubigen Toten im Abschiedsbrief vor, den sie am Abend beim Betreten der Wohnung auf dem Tisch ausgebreitet vorfanden. Franz Odermatt hatte keine Erwähnung gefunden.
Kapitel 1
Sonntag, 12. Dezember 2010, 15:00
Gian Meyer stand etwas abseits einer grossen Traube von Polizeibeamten auf dem Rasen eines Grundstückes an der Römerstrasse östlich des Winterthurer Stadtzentrums. Das heisst, der Rasen lag unter einer knapp fünf Zentimeter hohen Schneedecke. Er hatte den Kopf gesenkt. Ein Aussenstehender hätte diese Haltung vermutlich als Denkpose interpretiert, aber in Wirklichkeit musste Meyer durchatmen. Dieser Einsatz machte ihm mehr zu schaffen als jeder vorangegangene. Der Kommissar studierte seine Fussabdrücke, die den Schnee durchgedrückt haben und das Gras zum Vorschein brachten. Er machte einige Schritte. Mit einem Platschen wurde der Schneematsch zusammengedrückt und Wasser bildete sich. Wasser, das durch seine angeblich wasserfesten Winterstiefeln rann und seine Socken nässte.
Es hatte wieder zu schneien begonnen. Grosse dicke Schneeflocken, die von Matsch zeugten, fielen von der tief hängenden Wolkendecke.
Vor knapp zwei Minuten waren vier Streifenwagen der Polizei durch Winterthur gerast und hatten mit quietschenden Reifen den Rasen des Grundstücks platt gewalzt. Die vom Schnee befreite matschige braune Erde gab das gezackte Reifenprofil der Wagen exakt wieder. Als die Beamten sich Zutritt zu dem zweistöckigen Einfamilienhaus direkt an der Einfahrt verschaffen wollten, trat ein Ehepaar mittleren Alters aus der Tür.
„Wir möchten mit ihrem Sohn sprechen!“, hatte Meyer gesagt. Es schien ihm eine Ewigkeit her. Alles war wie ein Routineeinsatz.
Doch er stiess auf Widerstand.
„Wieso?“, hatte ihn die Frau skeptisch gefragt.
„Wir haben die Auffassung, dass er seine Freundin ermordet hatte“
Trotz dieser Indiskretion hatte der Kommissar keine Chance. Im Gegenteil, sie hatte die Konfrontation sogar noch verschärft.
Meyer sah auf und wischte sich Schnee, der ihm fortwährend auf die Augenpartie fiel, weg.
Die restlichen Polizisten hatten sich um das Ehepaar geschart. Es schien sehr aufgebracht zu sein.
„Was unterstellen Sie nur meinem Sohn!“, hörte Meyer die Frau keifen. Meyer glaubte, sie würde jeden Moment ein grosses Messer hinter dem Rücken hervorziehen und die Beamten abschlachten.
„He, Meyer!“ Jemand riss ihn aus seinen Gedanken.
Der Kommissar sah auf und sah, wie ein junger Mann intensiv zu ihm winkte. Es war sein designierter Nachfolger Ramon Steiner, ein aufstrebender 25-jähriger Neuabsolvent der Polizeischule aus Bülach. Steiner hatte das dunkelblonde Haar seitlich gekämmt.
Meyer ging auf ihn zu.
Es war bisher ein strenges Wochenende gewesen für den Kommissar, bis sie endlich