„Nein. Nicht dass ich wüsste.“
„Wir hatten ein kurzes Gerangel. Na ja, vielleicht mehr als das. Ich habe ihn verletzt, glaube ich. Einem natürlichen Wolf gegenüber wäre ich nicht so aggressiv gewesen...“ Andreas Koch sah mich nachdenklich an. „Wir hatten hier nie Probleme mit Werwölfen. Wenn jetzt zwei in so kurzem zeitlichem Abstand auftauchen, müssen wir davon ausgehen, dass sie mit Ihnen zu tun haben. Ob Ihr Marcus dahinter steckt, oder ob er es vielleicht selbst gewesen ist, lässt sich nicht feststellen. Aber es ist wahrscheinlich, wenn Sie keine anderen Feinde haben.“
„Und was machen wir jetzt?“, fragte Sam.
„Sie muss untertauchen“, entschied Andreas Koch. „In ihre Wohnung kann sie nicht zurück, ebenso wenig an die Uni. Als nächstes müssen wir herausfinden, wie mächtig der Marcus-Clan ist. Wie viele Informanten haben sie? Wo sitzen die? Am liebsten würde ich Anna außer Landes bringen, aber dazu muss ich erst die Lage klären. Wir sind hier nicht so viele, als dass wir einen lückenlosen Personenschutz leisten könnten. Vielleicht fordere ich noch Verstärkung an.“
„Ich dachte, du bist ausgestiegen?“, fragte Sam erstaunt. Andreas Koch nahm eine Kaffeetasse von seinem Sohn entgegen und grinste schief. Es durchzuckte mich: Dieses Grinsen kannte ich von seinem Sohn. „Ja, das dachte ich auch. Ich wusste ja nicht, dass mein Sohn sich mit Wölfinnen einlässt. Was ist eigentlich mit Alexa?“
„Ich lasse mich nicht ein.“ Sam wurde rot. „Anna ist eine gute Freundin. Mit Alexa und mir ist alles prima.“
„Ich hoffe nur, es ist immer noch alles prima, wenn Alexa erfährt, dass eine teilbekleidete Blondine in deinem Bett sitzt – nichts für ungut, Anna.“
„Ich hatte keine Kleider dabei“, erklärte ich und merkte selbst, dass ich damit nichts besser machte. „Also... ich kam gewandelt hier an. Deshalb würde ich eigentlich gerne in meine Wohnung zurück und ein paar Sachen packen.“
„Kommt nicht in Frage“, entschied Sams Vater. „Wir besorgen Ihnen alles, was Sie brauchen. In ein paar Stunden sind Sie hier weg. Entschuldigen Sie mich jetzt bitte – ich muss mal telefonieren...“ Andreas Koch erhob sich und ging hinaus in den winzigen Flur. Sam setzte sich zu mir aufs Bett und ergriff meine Hände. „Was machen wir mit Alexa?“, fragte ich. „Sie wird mitbekommen, dass ich weg bin. Irgendetwas müssen wir ihr sagen.“
„So viel wie nötig und so wenig wie möglich. Das ist das Beste für alle. Sie ist keine Eingeweihte, und das muss auch so bleiben. Zu ihrem und zu deinem Schutz.“
„Also müssen wir sie anlügen?“
„Ja. Ich schlage vor, du rufst sie später an und erzählst ihr die Geschichte von der kranken Mutter oder der gestorbenen Oma. Irgendetwas, das dich zwingt, aus Frankfurt abzureisen. Dann sehen wir weiter.“
„Ich will aber nicht aus Frankfurt abreisen!“ Sam seufzte abgrundtief. „Ich will auch nicht, dass du abreist. Aber noch viel weniger will ich, dass du diesem Monster in die Hände fällst. Lass meinen Vater mal machen. Er findet bestimmt eine gute Lösung.“ Ich küsste zart seinen traurigen Mund, aber er zuckte zurück und wies mit dem Kinn auf den Flur, wo sein Vater telefonierte. Die kleine Geste verletzte mich mehr, als es Animals Klauen getan hatten. Ich zog meine Hände zurück, und er sah mich hilflos an. „Ich verstehe dich“, sagte ich, „aber es muss mich ja nicht glücklich machen, oder?“
„Vermutlich nicht.“ Wir tranken Kaffee und sahen uns schweigend über den Rand unserer Tassen hinweg an, bis Andreas Koch zurückkam und sein Smartphone in die Jackentasche steckte.
„Wir bringen Sie zunächst in einen Unterschlupf hier in der Nähe“, sagte er zu mir. „Dann stellen wir Nachforschungen über die Gruppierung an und entscheiden, welches der sicherste Weg ist, Sie ganz aus der Schusslinie zu bringen. Wenn die Gruppierung Verbindungsleute am Flughafen hat, wird es schwierig, Sie außer Landes zu bringen, in dem Fall nehmen wir vielleicht lieber ein Auto. Mal sehen, welche Informationen wir so bekommen.“
„Aber wäre es nicht sicherer, wenn wir sie möglichst schnell ins Ausland bringen?“, fragte Sam.
„Möglichst schnell ist schon vorbei. Sie ist seit gestern hier, sagst du? Wenn der Marcus-Clan den Flughafen abdichten will, hat er es längst getan. Du hättest mich früher anrufen sollen. Jetzt haben wir nur die Chance, durch ein Loch zu schlüpfen, das ihre dünne Personaldecke uns lässt. Sie können unmöglich alle Wege überwachen.“ Sam blickte zu Boden. Andreas Koch schlug ihm aufmunternd auf den Rücken. „Zumindest hat es gestern kräftig geregnet – Annas Geruchsspur sollte einigermaßen verwischt sein. Trotzdem muss sie so schnell wie möglich von hier verschwinden.“ Ich fühlte mich schrecklich. Nicht nur, dass ich die Menschen in Gefahr brachte, die mir wirklich viel bedeuteten – ich musste nun auch zulassen, dass man über mich entschied wie über einen Gefahrguttransport. Die ultimative Fremdbestimmung.
„Wenn dafür noch Zeit ist, würde ich gerne duschen gehen“, sagte ich. „Ein paar Geruchsspuren abwaschen.“ Andreas Koch nickte. „Man wird Sie in etwa einer Stunde abholen. Ich bleibe so lange hier, damit auch alles glatt verläuft.“
Ich ließ mir Zeit unter der Dusche. Das getrocknete Blut überzog meine Haut wie ein Film, und ich rieb es vorsichtig ab. Nun konnte ich endlich im Einzelnen sehen, was Animal mir angetan hatte. Tiefe Furchen zogen sich von meiner Hüfte bis hinunter zum Knie. Meine Waden waren von den Stiefeln geschützt gewesen, und die Fußsohlen musste ich mir aufgeschnitten haben, als die Wölfin über die Glasscherben geflohen war. An den Armen hatte ich Abschürfungen, die nicht tief, aber flächig waren. Zumindest an den Beinen würde ich wohl Narben behalten, die mich immer an meine kurze und unglückliche Karriere als Model erinnern würden. Ich seifte meine Haare ein und spülte den letzten Geruch nach Rauch und Abbruchhaus in den Abfluss. Sollte Animal mir je wieder vor die Krallen laufen, würde ich mich erkenntlich zeigen.
Von Sam lieh ich mir ein frisches T-Shirt und eine lockere Boxershorts. Mein Kaffee war in der Zwischenzeit kalt geworden, aber ich trank ihn trotzdem.
Als es endlich an der Tür klingelte, zuckten wir alle zusammen. Sams Vater ging an die Sprechanlage und wechselte ein paar Worte, dann betätigte er den Summer.
„Abmarsch“, sagte er. „Wohin bringen Sie mich?“, fragte ich nervös. „Wir haben einige Rückzugsorte in der Gegend. Sie wurden lange nicht mehr benötigt, aber wie man sieht, kann man nie vorsichtig genug sein.“
„Das beantwortet nicht meine Frage!“ Andreas Koch seufzte. „Ich will nicht zu viel verraten. Die Menschen dort begeben sich in Gefahr, um Sie zu unterstützen. Es ist eine kleine Wohnung in Sachsenhausen, und unsere Kontaktfrau wird sich um Sie kümmern. Selbstverständlich bleiben wir in Kontakt.“
„Und du?“, fragte ich Sam, während Panik in mir aufstieg. „Du wirst mich dort besuchen kommen, oder?“
„Mal sehen“, sagte Sam und sah abwartend zu seinem Vater. „Dies ist kein Abschied für immer!“, schrie ich.
„Nein, nein. Wir müssen nur vorsichtig sein. Du darfst mich nicht anrufen, für den Fall, dass die anderen eingehende Gespräche zurückverfolgen. Ich besorge mir ein Prepaid-Handy und melde mich bei Dir.“
„Du tust ja gerade so, als wären die eine kriminelle Vereinigung...“
„Genau so ist es“, schaltete Andreas Koch sich ein. „Wir haben es mit mafiösen Strukturen zu tun. Sie sind technisch auf dem neuesten Stand, und wir wissen nicht, wie viele Leute sie haben. Was ist?“, fügte er hinzu, als er meinen ungläubigen Blick sah. „Was hatten Sie erwartet? Ein Rudel halbverwandelter Idioten, die im Wald hocken