Warug hob unter Stöhnen den Kopf. Er spürte eine Woge der Macht, die ein wenig seinen Schmerz linderte, seine geistige Taubheit und sogar seine Trauer etwas vertrieb. Für einen Augenblick konnte er klarer denn je sehen: ein Keiler von enormer Größe kam aus dem Wald heraus. Er hatte ihn bereits früher schon gesehen, den Wilden Gott Toruskorr, den donnernden Herrn des Ostens. Hörner krönten sein Haupt. Hauer im Maul, Hufe an stämmigen Läufen. Mit Muskeln berstend war sein massiver Leib. Grau und Weiß das kurze Fell. Dunkel glänzend der Kamm besonders langer Borsten entlang von Haupt und Rücken. Die Augen glühten kurz mit Rot auf. Worin sich sonst alle Ruhe, alle Macht der Welt zeigte, war es für einen Moment allein ein tiefer Zorn, der nur Warug gelten konnte. Der halbtote Werwolf wollte mit irgendeiner Geste dem Gott vor ihm Respekt erweisen, aber er konnte bloß röchelnd seinen Kopf anheben, ehe dieser wieder unter gänzlicher Aufgabe des Fleisches zur Brust sank.
Erde und Wald zitterten, als der Große Vater Keiler schließlich vor dem mit Blut verkrusteten Baum der Anklage stehen blieb, seinen Schädel hob und roch, roch am angenagelten Frevler vor ihm, roch in dessen Seele. Gefrorener Atem wie Dampfstrahlen aus seinem Maul, aus den Nüstern. Bald schon ließ er ab, dann grunzte er erneut, aber nicht im Zorn, sondern in beinahe resignierender Erkenntnis.
Nun trat Gava Meduna hinter dem Wilden Gott hervor. Sie schien die einzige Begleiterin. In einen dichten Fellmantel mit Kapuze war sie gehüllt, ihren gewundenen Stab hatte sie natürlich bei sich. Ihr Blick auf den Gottschlächter war sehr streng und ermattet zugleich. Die langen Nächte von Zusammenkünften, Beratungen und auch der Trauer zehrten bereits an ihrer Substanz.
Toruskorr schien länger im inneren Geist verweilend. Für eine Zeit war auf der Lichtung nur sein lautes Atmen und der Wind zu hören. Der Große Vater Keiler dachte nach, vielleicht rief er auch hinaus, hinaus in die höheren Sphären mit seiner göttlichen, stummen Stimme, so vermutete Gava Meduna. Er sollte eine Antwort bekommen, die allein ihm gebührte und die allein er ertragen konnte.
Er erhob erneut sein heiliges Haupt, grunzte und sprach sodann mit endlos tiefem, dröhnenden Ton.
„Er soll leben. So ist entschieden.“
Zuerst glaubte Warug ihn nicht zu verstehen, aber dann erfasste er die volle Bedeutung der göttlichen Worte. Es sollte also wieder nicht der Tod, sondern das Leben sein. Er würde also nicht am Baum der Anklage sein Ende finden.
Die Erzmatrone wagte nach gebührender Andacht eine Nachfrage: „Oh Großer Vater Toruskorr, ich akzeptiere euer heiliges Gebot. Doch wie genau soll weiter mit ihm verfahren werden?“
Langsam neigte der Wilde Gott den Schädel zur Seite. Sein Blick traf den ihren. Soviel Ehrfurcht er auch immer gebieten mochte, einen gewissen sanften Respekt hatte er stets für die Schwesternschaft übrig, vor allem für eine solch verdienstvolle Matrone, wie es Meduna schon immer gewesen war.
„Zunächst soll er noch leiden.“ Mit nur angedeuteten Bewegungen von Maul und Mund ertönte das Wort aus der Tiefe seiner Kehle. „Lasst ihn hängen, lasst ihn bluten, bis zum Abend des Zwölften. Bettet ihn zur Heilung. In alter Sprache die Wunde des Vaters auf seinen Rücken, auf dass er immer seinen Namen spüre, bis zu seinem Ende. Dann seht zu, dass er wieder stehen kann und dass ihn niemand bis dorthin tragen muss, wo ihn alle sehen werden. Er soll sein Urteil aufrecht erhören. Tut wie euch geheißen, höchste Matrone der Allmutter.“
Die Angesprochene nickte, fragte noch weiter: „Oh Großer Vater Torruskorr, ihr habt doch gewiss seine Seele erkannt? Sehr ihr Verderbnis, die mir verborgen ist oder seht ihr es, was prophezeit wurde? Ist er ein Auserwählter?“
Der grauweiße Keiler, der die Erzmatrone bei weitem überragte und direkt ins Gesicht des hoch hängenden Werwolfs blicken konnte, grunzte in seltsamer Tonlage. Es klang beinahe wie ein Seufzen.
Erst nach einer Weile gab er zur Antwort: „Der Eine Feind windet sich nicht in ihm, dies seid gewiss. Und er hat bereits eine Prophezeiung erfüllt. Er ist es.“
Der große Wildschweinschädel nickte. Die Matrone neigte tief ihr Haupt und blickte sodann auf den Gekreuzigten.
Toruskorr wandte sich Warug zu und dröhnte: „Doch welcher dieser da es zur Dämmerung der Letzten Schlacht sein wird, sollt ihr jetzt noch nicht wissen. Verkündet es noch nicht, denn dies soll später geschehen. Nennt ihn vorerst so, wie ihr ihn alle nennt. Warug Gottschlächter, der du einst der Geächtete warst und dann der Gnadenwandler. Und jetzt erneut, eine Gnade für dich. Selbst wenn du, Kind des Wolfs, bis ans Ende deiner Tage nur noch beten würdest in Dankbarkeit und Reue, dann wäre deine Schuld immer noch nicht getilgt. Aber sterben musste er, mein Gottbruder, der mit letztem Atemzug nur noch Dämon war. So war deine Klaue der Vollstrecker. Niemand wird es je vergessen. Ein Opfer, ja, ein Opfer wie es sein musste. Arda wollte es so, Erennos hat es erwirkt.“
Warug verstand die heiligen Worte mit aller Klarheit. Jede Silbe der heiligen Stimme stach in seinem Inneren, doch konnte er nicht darauf antworten. Er konnte nur weinen, leise und verloren.
Der Große Vater Keiler starrte den vor ihn Hängenden noch eine längere Weile genauer an. Er musterte ihn und schien wieder zu überlegen. Eine Botschaft hatte er sodann noch für den Geächteten von Einst.
Der Tonfall des Wildschweingottes klang mit folgenden Worten erstaunlich sanft: „Kind des toten Wolfvaters, ich werde nicht vergessen, dass du eines meiner Kinder dereinst gejagt und vernichtet hast. Es war verderbt und gefallen, daher musste es sterben. Ihr brachtet es zur Strecke, ehe es entkam, so wie andere zuvor und den Einen danach. Mein Dank dafür. Niemals wart ihr in allen Dingen und Taten schlecht, aber der Preis muss immer gezahlt werden. Wenn nicht im Leben, dann im Tod.“
Die Erzmatrone an der Seite des Gottes senkte tief das Haupt. Warug verstand ebenso.
„Es ist Zeit“, dröhnte Toruskorr unmittelbar hierauf. „Kehren wir zurück zum Hain. Die Meinen werden mich wieder begleiten. Mein Heerführer wird mit der Abgesandten der Mada noch drei Tage länger hier bleiben. Ihr werdet weiter beraten, höchste Matrone vom Wald der Welt. Die Götter sind mit euch, alle Götter. Wer aber mit ihm ist, wird sich erst entscheiden.“
Der Boden zitterte, als sich der grauweiße Keiler umwandte. Langsam stampfte er davon, wieder in den Wald hinein. Die Natur und die Geister zeigten sich erneut in Demut.
Gava Meduna blieb noch einen Moment stehen und blickte auf den plötzlich stark zitternden Frevler am Baum der Anklage.
„Lebe also“, murmelte sie. „Leide noch zwei Tage. Dann kommen wir und du sollst heilen. Was vom Fleische übrig ist, wird gesunden. Deinen Geist kann aber nur deine Gnade retten. Nicht der Erste, aber der Letzte, der dir verzeihen muss, bist du selbst.“
Dann wand sie sich ab und ging ebenso davon.
Erst nach einer gewissen Weile hatte der hängende Werwolf begriffen, dass er soeben wieder verlassen worden war. Er glaubte, dass er zumindest Gava Meduna vielleicht noch etwas hinterherzurufen vermochte. Mit aller Kraft, zu der Warug noch irgendwie fähig war, versuchte er etwas zu sagen, aber alles was er aus seinem Mund hörte war ein ersticktes Krächzen. Für einen schrecklichen Moment war es ihm gar so, als könne er nichts mehr sagen, weil er keinen Mund mehr hatte. Allein mit Würgen gefrorener Hauch, Speichel mit Blut. Er hätte ohnehin nicht mehr gewusst, ob es ein Wort des Dankes hätte werden sollen oder irgendetwas anderes.
Die Kälte riss ihn in den Morgen. Beständig laut brauste nun der Wind durch den Wald der Welt. Wie ihm zu Diensten wogten die Kronen.
Anders begann dieser Tag, denn aus welchem Grund auch immer wurde kein Klagen der Werwölfe angestimmt. Beinahe unheimlich war dies, und unerwartet. Allein das gleichmäßig anhebende und wieder etwas weniger laute Heulen und Rauschen von Luft und Zweig herrschten vor.