»Hilfe…!«, rief ich intuitiv. »…Ist hier irgendjemand, der mir helfen kann? Warum bin ich hier? Was ist mit mir passiert? Und warum trage ich Schmuck aus Überraschungseiern!?« Doch niemand war da, der mir meine Fragen beantwortete.
Bei näherer Untersuchung entdeckte ich im Innenteil des Rings ein Datum und die Gravur:
In Liebe, dein Julius
Ich? Verheiratet mit dem? Derjenige, der sich diese Absurdität hatte einfallen lassen, musste unbedingt bei der nächsten Preisverleihung mit der Siegespalme in der Kategorie »bester Komiker« ausgezeichnet werden.
Und um noch mal auf das Thema Kinder zurück zukommen: Falls ich überhaupt jemals Kinder haben sollte, dann ja wohl logischerweise mit meiner großen Liebe Alex. Und mit Sicherheit würde ich sie nicht mit solchen anachronistischen Apostel-Namen bestrafen. Simon, Johannes und Jakob. Lächerlich, diese Namensvergabe! Ich, als bekennende Atheistin. Ich muss dazu sagen, dass meine Familie nie besonders fromm gewesen war. Seit meiner Taufe wohnte ich genau achtzehn Mal einem Kirchgottesdienst bei – um genau zu sein, jedes Jahr an Heiligabend. Am Tag meiner Volljährigkeit trat ich dann endgültig aus der Kirche aus.
Ich hatte mich noch nicht ganz von dem Schock mit dem Ehering erholt, da kehrte Dr. Gaulkötter zurück ins Zimmer. Wieder setzte er sich an meine Bettkante und wieder sah ich ihn an wie einen Außerirdischen.
»Stella du bist zweiunddreißig Jahre alt, wurdest in London geboren und bist in Grünwald aufgewachsen«, sagte der Außerirdische mit emphatischer Stimme. »Deine Mutter Constanze starb an Krebs als du sechzehn warst. Dein erstes Konzert war bei Michael Jackson. Olympiastadion, 27. Juni 1992. Er hat dir ein Autogramm auf den linken Handrücken geschrieben. Du hast die Hand einen Monat lang nicht mehr gewaschen.«
Jetzt war ich verwirrt.
»Wieso wissen Sie das alles?«
Augenblick…, irgendwas stimmt hier nicht!
Von Überzeugung ergriffen, schleuderte ich ein schrilles »H-A-L-T-!« in seine Richtung. »Ich bin erst fünfundzwanzig!«
Triumphierend sah ich dem Mann in die Augen.
»Du bist zweiunddreißig, Stella!«, widersprach der Gynäkologe, der offenbar fest daran glaubte, ich sei seine Ehefrau. Er sah mich eindringlich an und warf mir eine Zahlenreihe an den Kopf, bei der es sich eindeutig um mein Geburtsdatum handelte.
»Stimmt, das ist mein Geburtstag«, antwortete ich kritiklos.
»Also bist du zweiunddreißig Jahre alt.«
Häh, kann der nicht rechnen, oder was?
»Blödsinn, ich bin fünfundzwanzig!«
Julius Gaulkötter fixierte mich beharrlich mit seinen dunklen Augen.
»Stella, was ist los? Es hat gehagelt und gestürmt wie verrückt, an deinem 32. Geburtstag. Erinnerst du dich nicht mehr daran?« Seine Stirn lag in Falten.
Ich schüttelte nur verständnislos den Kopf, worauf sich Enttäuschung auf seinem Gesicht widerspiegelte. Er blickte mich gequält an.
Wer war hier eigentlich verrückt?
Ernsthaft, dieser Mann brauchte therapeutische Hilfe und zwar ganz schnell!
Pff… Zweiunddreißig.
Ich hatte doch nur eine Woche im Koma gelegen. Wieso sollte ich plötzlich sieben Jahre älter sein?
Was für ein Irrenhaus.
Mir schwirrte der Kopf. Ich hörte mein Blut in den Ohren rauschen, dann kehrte das Dröhnen zurück und mir wurde schwarz vor Augen.
Kapitel 2
»Wer hätte gedacht,
dass ich, Stella-Sexy-Sixpack-Edwards,
jemals eine postnatale Bauchdeckenstraffung
in Anspruch nehmen müsste?«
Als ich aufwachte, fühlte ich mich, als wäre ich einen ganzen Abend lang Karussell gefahren. Nachdem ich mich allmählich von dem Schwindel erholte, vernahm ich gedämpfte Geräusche und kurz darauf eine verzerrte Männerstimme. Trotz meines dröhnenden Schädels verstand ich jedes Wort. Ich blinzelte und erkannte die verschwommenen Umrisse zweier männlicher Gestalten, die am anderen Ende des Zimmers standen.
»Tut mir wirklich leid, lieber Herr Kollege. Infolge des Aufpralls und des massiven Stoßes gegen den Kopf, leidet Ihre Frau an einer vorübergehenden retrograden Amnesie. Wir müssen zuerst verschiedene Tests mit ihr durchführen, um genau herauszufinden, inwieweit ihr Erinnerungsvermögen beeinträchtigt ist. Erst danach können wir eine gezielte psychologische Therapie in Betracht ziehen.«
Dann hörte ich den anderen Mann sprechen. Ich erkannte die Stimme sofort wieder. Es war Julius Gaulkötter, dieser Frauenarzt, der nicht ganz bei Trost war und der mir partout seine drei quirligen Nervzwerge unterschieben wollte.
»Wie lange kann so was dauern Doktor Hildebrand?«
»Das kann ich nicht genau sagen. Ein paar Wochen. Vielleicht auch Monate. Wir sollten in jedem Fall behutsam mit ihr umgehen, damit sie keinen psychischen Schock erleidet.«
»Ihre Erinnerung endet vor ungefähr sieben Jahren. Sie glaubt immer noch, sie sei fünfundzwanzig. Von uns weiß sie nichts mehr. Wie soll ich den Kindern erklären, dass ihre Mutter sie nicht mehr erkennt? Sie brauchen ihre Mutter. Außerdem ist bald Weihnachten. Was ist, wenn sie uns hoffnungslos vergessen hat? Wenn ihre Erinnerung nie mehr zurückkommt?«
»Keine Sorge, Doktor Gaulkötter. Die Erinnerung Ihrer Frau wird schon wieder zurückkehren«, erwiderte der andere zuversichtlich.
»Und wenn nicht?«, erkundigte sich Doktor Gaulkötter mit bebender Stimme. »Stella verhält sich so merkwürdig. Was ist, wenn sie nichts mehr von uns wissen will?«
Das konnte er aber laut sagen. Als ob ich mein vertrautes und geliebtes Jetset-Leben aufgeben würde, um zu diesem Gaulkötter zu ziehen und auf dessen lästigen Nachwuchs aufzupassen. Wovon träumt der eigentlich nachts?
Retrodings hin oder her. Im Übrigen war ich bislang davon ausgegangen, diese komische Amnesie, von der der Arzt vorhin gesprochen hatte, sei lediglich ein fiktives Krankheitsbild, das den Köpfen irgendwelcher Bestsellerautoren oder Starregisseuren entsprungen war.
Wie war es überhaupt zu meiner Kopfverletzung gekommen? Unwillkürlich fasste ich mir an den hämmernden Schädel und ertastete mit den Fingern das Überbleibsel einer Beule auf meiner Stirn. War es wirklich ein Autounfall? An diesen mysteriösen Teil meiner Vergangenheit konnte ich mich tatsächlich nicht erinnern. Es kam mir so unbegreiflich vor, dass sieben Jahre meiner Erinnerung versehentlich irgendwo innerhalb meines Gehirns abhanden gekommen sein sollten. Im Geiste rechnete ich mir die angebliche, aktuelle Jahreszahl aus. Ohne Zweifel war ich dann zweiunddreißig Jahre alt, was natürlich den bedauernswerten Allgemeinzustand meiner Epidermis erklärte. O mein Gott, in meinen Augen war ich quasi im Zeitraffer gealtert. Sofort musste ich an diverse Naturkunde-Dokumentationen im Fernsehen denken, wo man den physischen Verfall aller möglichen Dinge in Quick-Motion beobachten kann: Eben liegt da noch eine saftige, pralle Weintraube, doch innerhalb von Sekunden verwandelt sie sich in eine schrumpelige Rosine.