Nicht, dass wir seitdem unzertrennlich gewesen wären, Vera und ich. Zwischen uns herrschte von jeher so eine gewisse Rivalität, die hin und wieder zu Spannungen in unserem Freundschaftsverhältnis führte. Doch früher oder später entluden sich diese Spannungen, was letztlich bedeutete, dass es ordentlich zwischen uns krachte und dann war meistens wieder gut. Vera und ich waren quasi aus dem gleichen Holz geschnitzt, was vielleicht der Grund dafür war, dass wir weder miteinander noch ohne einander auskamen. Wir liebten und wir hassten uns. Wobei ich sie oftmals etwas weniger liebte, dafür aber etwas mehr hasste, was meiner Ansicht nach absolut legitim war. Immerhin war Oldtimerliebhaber-Oliver nicht der Einzige Typ, den Vera mir im Laufe der Jahre vor der Nase wegschnappt hatte.
Vera und ich kannten uns schon seit unserer Kindheit, die sich bei uns beiden gleichermaßen sorgenfrei abzeichnete, dank unserer gutbetuchten Eltern. Aber ich muss dazu sagen, dass Vera auf jeden Fall die Verwöhntere von uns beiden war.
Vera hatte reichlich viel Zeit an diversen Universitäten verbracht, ohne dabei ein bestimmtes Ziel vor Augen zu haben, gemäß der Devise: »Von allem ein bisschen, aber bloß nicht zu tief ins Detail gehen«, denn dann wurde es ihr schnell zu anstrengend. Tatsächlich hatte sie schon alles Mögliche begonnen zu studieren. Angefangen bei Kunstpädagogik und Japanologie. Gefolgt von Europäischer Literaturgeschichte, Ethnologie und Biochemie. Letzten Endes kam sie jedoch zu der bahnbrechenden Überzeugung, dass nichts davon zur Entfaltung ihrer vielfach vorhandenen, individuellen Begabungen beitrug, was ich ihr natürlich von vornherein hätte sagen können. Und ich war bei weitem nicht die Einzige, die ahnte, dass der Schwerpunkt ihrer begnadeten Fähigkeiten nicht unbedingt in ihrer Scheitelregion lag.
Also, ich persönlich war ja immer noch der Meinung, dass sie mit siebzehn diesen steinreichen, uralten Scheich hätte heiraten sollen, der ihrem Vater so ein ehrenvolles Angebot gemacht hatte – damals, bei unserem gemeinsamen Wochenendtrip nach Dubai. Aber sie wollte ja nicht auf mich hören (was sie übrigens nie tat). Dabei sah der alte Araber so aus, als würde er in absehbarer Zeit den Löffel abgeben und Vera wäre schon bald eine milliardenschwere Witwe geworden. Mal ehrlich, einen derart gewaltigen Schritt auf der Karriereleiter, würde sie wohl auch nach zwanzig Studienjahren nie erreichen. Doch anstelle eines vergoldeten Luxuslebens im Morgenland (der einzige Nachteil dabei war natürlich die lästige Kleidervorschrift, die besagte, auch bei 40 Grad im Schatten demutsvoll die Burka zu tragen), schwebte meiner Freundin lieber eine Modellaufbahn vor.
Entgegen meiner Erwartung modelte Vera überraschend erfolgreich für tiefdekolletierte Dirndl, was sie zweifellos einem besonders produktiven Schönheitschirurgen zu verdanken hatte. Aber wenn sie meinte, dass sie es nötig hatte. Bitteschön. Sie musste sowieso immer übertreiben. Pff… sollte sie doch angeben, mit ihren Silikonmelonen. Solche Fake-Möpse hatte ich gar nicht nötig. Noch nicht, zumindest. Noch war meine naturbelassene Brust völlig einwandfrei und da ich mit Sicherheit keinen Säugling stillen, geschweige denn überhaupt Kinder in die Welt setzen würde, bräuchte in absehbarer Zeit wohl kaum eine Brust-Vergrößerung. Wie gesagt – gute Erbanlagen!
***
Die Liste meiner zu tätigen Anrufe war lang. Aber zuerst musste ich mein Handy finden.
Ich wühlte in der Nachttisch-Schublade und entdecke dabei ein paar Zeitschriften, die ich auf meinem Nachttisch platzierte, für später.
Ich kramte weiter und stieß auf einige Grußkarten, auf denen komischerweise mein Name stand.
Für Stella,
Gute Besserung wünscht Dir Lotte.
Stella, was machst du bloß für Sachen? Alles Gute und ein Küsschen, Susann
Liebe Stella,
eine baldige Genesung wünscht Ihnen
Waldorfkindergarten Regenbogen
Meine liebste Stella,
werd‘ schnell wieder gesund!
Julius
Julius... ? Dieser Name sagte mir überhaupt nichts.
Bestimmt wieder so ein bedeutender Jemand, den ich auf einer der zahlreichen Jetset-Partys kennengelernt hatte, die ich für mein Leben gern besuchte und dessen Connections mir gewiss irgendwann einmal zu Gute kommen würden!
Lotte...?
Susann...?
Waldorfkindergarten …?
Achtlos warf ich die Karten in die Schublade zurück. Ah, da war ja mein Handy. Oder doch nicht? Was war das denn für ein rückständiges Teil? Wo bitteschön war mein heißgeliebter BlackBerry? Ohne den war ich aufgeschmissen.
Etwas verunsichert schaute ich mir das simple Mobiltelefon an. Mehr als telefonieren konnte man damit höchstwahrscheinlich nicht. Herrje, all meine wichtigen Notizen und Termine – futsch!
Ich überlegte. Dieses Handy musste der echten Frau Gaulkötter gehören und mein lebensnotwendiges Smartphone befand sich vermutlich in der Nachttischschulblade meines Körpers, wo auch immer der steckte. Also, das musste auf jeden Fall möglichst bald klargestellt werden.
In erster Linie ging es mir ja gar nicht um den BlackBerry. Womöglich würde mein Vater mir bei seinem nächsten Besuch sogar ein neues Smartphone mitbringen. Nichts Ungewöhnliches. Er spendierte mir alle naselang die allerneusten Geräte, da er Kapitalanleger eines renommierten Unternehmens für modernste Mobilfunktechnologie war.
Ich fummelte an dem primitiven Handy herum. Nach Kurzem entdeckte ich das Telefonbuch-Menü. Gespannt durchstöberte ich die Einträge. Tatsächlich kam mir kein einziger Name bekannt vor.
»Mami, tommst du jetzt nach Hause?«, rief plötzlich einer von Frau Gaulkötters Sprösslingen. Ich hatte ja keine Ahnung von Kindern, aber grobgeschätzt waren sie drei, höchstens vier Jahre alt. Inzwischen hatten sie sich zum Spielen unter mein Bett verzogen, wobei die Lärmbelästigung, die von ihnen ausging, dabei keineswegs abflaute.
Ich ignorierte die Frage des Jungen einfach. Schließlich war ich nicht seine Mutter. Und außerdem wusste ich auch nicht, wann oder ob die überhaupt jemals nach Hause zurückkehren würde. Keine Ahnung, was mit ihr passieren würde, sobald mein Geist ihren Körper verließ, um in meinen eigenen zurück zukehren. Wer wusste das schon, unter Umständen erwartete sie ein völlig anderes Schicksal.
Ich lehnte mich gerade ins Kissen zurück, da schossen die Kinder unter dem Bett hervor und begannen, kreischend durch’s Zimmer zu jagen. Im ersten Moment dachte ich an ein Wespennest oder ähnliches. Doch so was wäre doch jeder Krankenhausputze, sofern sie nicht blind war und gelegentlich auch mal unter dem Bett saubermachte, irgendwann aufgefallen. Wenn diese Kinder also nicht wegen eines Dutzends Wespenstiche so ein Theater veranstalteten und auch nicht auf der Flucht vor wilden Tieren waren, dann konnte es sich wohl nur um ein Spiel handeln. Ich tippte auf Monsterjagd oder so was. Denn die fauchenden Geräusche und die Grimassen die sie machten, waren erstens wirklich zombiemäßig und zweitens trieben sie mich an den Rand des Wahnsinns. Ich war drauf und dran, die kleinen Ungeheuer aus dem Zimmer zu werfen, denn im Augenblick reichte mir dieser Horror mit dem falschen Körper völlig aus.
Mist verdammter, wenn meine puddingweichen Beine mir bloß gehorchen würden, fluchte ich innerlich.
Stattdessen lag ich hilflos auf dem Rücken, wie eine uralte Schildkröte. Aber Stella Edwards gab nicht so schnell auf. Ich atmete tief ein und nahm