Sie war schätzungsweise eins-achtzig groß und mindestens genauso breit. Bei näherer Betrachtung bekräftigte sich mein Verdacht, dass es sich bei ihrer olivgrünen Jacke um ein ausrangiertes Bundeswehrzelt handelte. Also nein, diese Person stammte definitiv nicht aus meinem Bogenhausener Bekanntenkreis. Niemand kleidete sich dort derart rustikal.
Als sie mich angrinste, erkannte ich eine breite Zahnlücke zwischen den beiden vorderen Schneidezähnen. Sie sah ein bisschen aus wie Vanessa Paradis – allerdings mit Schuppenflechte und erheblich mehr Wassereinlagerungen.
»Darf ich fragen, wer Sie sind?«
»Machst du Witze, meine Süße? Sag bloß, du erkennst deine Susi nicht?«
Ihr beharrliches Grinsen machte mich irgendwie nervös.
Meine Süße…???
Auweia, war sie möglicherweise meine heimliche Geliebte?
War ich neuerdings auch noch bisexuell? Herrgott nochmal, diese Unwissenheit machte mich noch wahnsinnig!
Die fremde Frau kam näher. Ihr Dekolleté war wirklich furchteinflößend. Mit Mühe unterdrückte ich einen Hilferuf und konzentrierte mich stattdessen auf meine Atmung.
»Ich bin’s. Susann!«, half sie mir auf die Sprünge. Doch ich glotzte sie nur begriffsstutzig an und wich so weit wie irgend möglich in meinem Bett zurück. Mein Kopfkissen war schon ganz platt. Postwendend erntete ich einen verständnislosen Blick ihrerseits und dann sagte sie fast vorwurfsvoll: »Susann Holzbaum, deine beste Freundin und Lieblingsnachbarin.«
Natürlich machte es trotzdem nicht Klick. Da konnte sie ihren Quadratschädel so weit vorstrecken, wie sie wollte.
Im Gegenteil. Diese ganze Situation erschöpfte nun auch den bescheidenen Rest meiner Geisteskraft und mit einem Mal spürte ich wieder diese innere Unsicherheit, die sich stetig in Aggression transformierte.
»Verdammt noch mal… Lasst mich doch alle in Ruhe.
Ich kenne weder Sie noch sonst irgendwelche Nachbarn. Ich weiß ja nicht einmal, wo ich jetzt überhaupt wohne!«
Meine Offensive schien diese Sandalen-Suse nicht sonderlich zu beeindrucken, stattdessen trällerte sie: »Schau mal, was ich dir mitgebracht habe«, und hielt mir eine Porzellanschale mit unbekanntem Inhalt vor die Nase. Da ich mir nicht sicher war, ob es sich bei der seltsamen grünen Pampe um etwas Essbares handelte oder um etwas, das schon mal gegessen wurde, glotze ich sie nur verdutzt an. Ich wollte ihr gerade die alles entscheidende Frage stellen, da enthüllte sie: »Ich hab’s nach deinem Spezialrezept zubereitet, Stella. Probier mal!«
Während ihr scheinbar das Wasser im Mund zusammenlief, begutachtete ich angeekelt den giftgrünen Mansch in der Schüssel. Na schön, kochen hatte ich also immer noch nicht gelernt.
»Und was soll das bitte sein? Wie isst man das? Pur?«
Das breite Dauergrinsen verflüchtigte sich schlagartig aus Suses Gesicht.
»So schlimm ist es also? Ein Jammer!«
»Was meinen Sie damit?«
»Na, dass du dich nicht mal mehr an deine eigene preisgekrönte, biologisch wertvolle Grünkohlsuppe erinnern kannst. Das ist einfach furchtbar!«
Mir fehlten die Worte.
»Kalorienarm und Nährstoffreich«, fügte sie lächelnd hinzu.
»Preisgekrönte Grünkohlsuppe? Jetzt machen Sie aber Witze!«
»Süße, könntest du wenigstens aufhören, mich zu Sie’zen.«
»Ich bin nicht Ihre Süße. Hör’n Sie gefälligst auf damit!«
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und eine junge Krankenschwester brachte ein Tablett herein.
»Abendessen, Frau Gaulkötter.«
»Unterlassen Sie es bitte, mich so zu nennen!«, dozierte ich in geschärftem Ton.
Das junge Ding stellte kleinmütig das Tablett ab und wünschte mir kaum hörbar einen guten Appetit. Suse verzog angewidert ihr Gesicht, als ich den Deckel vom Tablett hob.
»Das willst du doch nicht im Ernst essen?«, erkundigte sie sich empört.
Merkt die nicht, dass sie nervt?
»Wieso nicht? Ich hab riesigen Kohldampf. Immerhin hab ich eine ganze Woche lang nichts gegessen«, entgegnete ich unbeirrt und griff zu der Scheibe Brot auf meinem Teller. Na ja, eigentlich vermied ich es ja, Kohlenhydrate zu essen, besonders am Abend. Aber allemal besser, als diese grüne Bio-Grütze, die sie mir die ganze Zeit andrehen wollte.
Ich zögerte nicht länger, legte eine Scheibe Käse auf meine Brotscheibe und biss genüsslich hinein.
»Um Gottes Willen, Stella! Weißt du eigentlich, was du da isst?«
Was wollte diese aufmüpfige Person eigentlich von mir?
»Äh…Brot!?«, gab ich verunsichert zurück. Zugegeben, ich hatte schon Besseres, als diese gräuliche, vertrocknete Stulle gegessen.
»Das ist mit Sicherheit das minderwertigste Fabrikbrot, das ich je in meinem Leben gesehen habe!« Suses Stimme klang so gepeinigt, als hätte man sie gezwungen Glasscherben zu essen, wobei sie die wahrscheinlich bereitwilliger verspeist hätte, als das minderwertige Brot.
»Ich fass’ es nicht Stella. Dann spül es wenigstens mit der Suppe runter, um den Rest deiner Würde als Ökokostlerin zu wahren.«
»Was soll ich sein? Sie spinnen wohl!«, rief ich voller Verblüffung und verschluckte mich dabei fast an den staubtrockenen Brotkrümeln.
Suse, ihrerseits ebenso bedeppert, stand anscheinend kurz vor einem Herzinfarkt. Ihr Atem pfiff plötzlich ganz komisch.
Also gut. Dann wollte ich mal nicht so sein. Ich hatte wirklich keine Lust darauf, dass diese nervige Person mir, infolge akuten Herzversagens, demnächst noch in einem der Nachbarbetten Gesellschaft leistete, nur weil ich ihre dämliche Grünkohlsuppe nicht probieren wollte.
Und die Wahrheit war, der Krankenhaus-Käse schmeckte wie eingeschlafene Füße.
Ich stippte vorsichtig ein Stück Brot in die Suppe und probierte. Wow, war das köstlich!
Also, das hatte ich weiß Gott nicht erwartet, so unappetitlich wie das Zeug aussah. Gierig tunkte ich das Brot erneut in die Suppe und auf einmal musste ich an meine allererste Begegnung mit Beluga-Kaviar denken. Damals war ich sechs und keineswegs begeistert von den unattraktiven Delikatessen, die anlässlich meiner Einschulung das Festtags-Büfett zierten. Ich bezweifelte, dass irgendetwas davon lecker schmecken sollte, entschied mich aber letztendlich für den Kaviar, der sich gegen panierte Kopffüßler (euphemistisch »Calamaris«), gegrillte Riesengarnelen und krüppelige Austern hatte durchsetzen können.
»Probier ihn. Du wirst ihn lieben, Stella!«, hatte meine Patentante Rosi mir prophezeit. Im Wahrsagen war sie allerdings noch nie gut gewesen. Um es mit anderen Worten auszudrücken, eine ihrer Vorahnungen hatte meine schwangere Mutter trügerischerweise dazu animiert, himmelblaue Babygrundausstattung im Wert eines Kleinwagens zu erwerben, und da meine Mutter die kuriose Angewohnheit besaß, niemals etwas umzutauschen, glaubte alle Welt in den ersten Monaten meines Lebens, ich wäre tatsächlich der ersehnte Stammhalter.
Aber um noch mal auf das eigentliche Thema zurückzukommen, seit jenem denkwürdigen Tag, war ich vorsichtig, was unansehnliche Lebensmittel betraf. Und Tante Rosi trug seitdem keine offenen Schuhe mehr in meiner Gegenwart.
In Suses Gesicht kehrte Leben zurück. Beinahe freudig beobachtete sie mich beim Essen. Feine Schweißperlen leuchteten auf ihrer Nase und der Stirn. Sie zog sich einen Stuhl heran, auf den