Um der Moral gerecht zu werden, heirateten sie umgehend. Die Hochzeitsfeier fand im engsten Familienkreis statt.
Am 19. März 1964 wurde Agnes, die von Anfang an Angie gerufen wurde, geboren und nach zwei Monaten zu den Großeltern gebracht. Die erste Zeit besuchten sie ihre Tochter jedes Wochenende, aber mit dem beruflichen Erfolg wurden ihre Besuche immer seltener. Richard arbeitet inzwischen bei einer großen Immobilienfirma, die sich nur auf Luxusobjekte spezialisierte. Natürlich gehörte zu diesem Job, dass man auch in seiner Freizeit, den Kontakt zu potenziellen Kunden pflegte. Diesem Umstand verdankte Helen ihren Neueinstieg nach der Geburt Angies. Bei einer Modenschau lernte sie die Frau eines Klienten von Richard kennen und sie bot ihr die Leitung einer ihrer Boutiquen an. Ihr Erfolg war nicht mehr aufzuhalten und bereits nach fünf Jahren kauften sie das Haus und holten ihre Tochter zu sich.
Gemeinsam saßen sie in dem Büro von Frau Bayer, der Leiterin von Pro Familia. Frau Bayer strahlte Kompetenz und Vertrauen aus. Nach der Begrüßung sprach sie ohne Umschweife den Grund der Zusammenkunft an. „Durch die Informationen von der Lehrerin ihrer Tochter bin ich über die Sachlage im Bilde und leistete bereits einige Vorarbeit. Ich kontaktierte die Ärzte im Krankenhaus und erfuhr, dass die inneren Verletzungen bei ihrer Tochter schwerwiegend waren. Sie sind erleichtert, dass die Narben langsam verheilen, halten allerdings einen Abbruch in dem jetzigen Stadium für bedenklich. Neben der gesundheitlichen Situation, ist die rechtliche Lage zu klären. Sie wissen, dass ihre Tochter bereits die Grenze für einen legalen Abbruchs überschritten hat. Das heißt im Klartext: Es ist notwendig einen Antrag zu stellen, um eine Sondergenehmigung für einen Abbruch zu erwirken. Dabei ist unsere liebe Bürokratie zu berücksichtigen, und das ihnen die Zeit davon läuft.
Ich schlage ihnen eine andere Lösung vor. Ihre Tochter bekommt das Kind.“ „Nein! Schrien alle wie auf Kommando. Auf keinen Fall!“ „Lassen sie mich bitte ausreden, damit ist nichts entschieden. Also nochmals, sie bekommt das Kind und geben es zur Adoption frei. Es gibt so viele Paare die wünschen sich sehnlich ein Kind.“ „Sind sie verrückt“, schrie Herr Möller. „Nein, das bin ich nicht, aber sie sollten der Realität ins Auge sehen und alle Möglichkeiten überdenken. Ich weise sie nochmals darauf hin, dass es nicht sicher ist, ob der Abbruch genehmigt wird. Je eher sie eine Alternative ins Auge ziehen desto besser. Wegen der inneren Verletzungen ihrer Tochter wird man voraussichtlich das Kind durch einen Kaiserschnitt holen. In diesem Fall erlebt sie von der Geburt nichts. Ihr bleibt der erste Schrei des Babys erspart, wodurch jegliche Bindung unterbunden wird im Gegensatz zu einer normalen Geburt. Alle notwendigen Papiere werden im voraus unterzeichnet und das Baby wird, nach der Geburt den Adoptiveltern übergeben.
Angie, ich spreche Sie direkt an, weil es Sie betrifft. Was Ihnen passiert ist, lässt sich nicht mit Worten beschreiben, und ich weiß, dass Sie das Erlebnis nie vergessen können. Durch diese grauenvolle Tat ist traurigerweise ein Lebewesen entstanden. Ihr ungeborenes Baby hat es sich nicht freiwillig ausgesucht, in diese Welt geboren zu werden. Besitzt es kein Recht auf Leben in einer Familie, die es liebt? Sagen sie jetzt nichts. Ich bitte sie, mit ihren Eltern in Ruhe über beide Möglichkeiten nachzudenken. Egal wie Sie sich entscheiden, unterstütze ich Sie bei der weiteren Organisation.“ An Angies Eltern gewandt sagte sie: „Machen sie nicht den Fehler und schicken ihre Tochter zu einem illegalen Abbruch ins Ausland. Das könnte ihr Leben gefährden.“
Wieder zu Hause saßen sie im Wohnzimmer und es herrschte eisiges Schweigen. Frau Möller ertrug die Ruhe nicht und ging in die Küche. Angie kauerte im Sessel und wagte nicht, sich zu bewegen. Herr Möller griff zum Telefon, rief zuerst Doktor Arendt und anschließend seinen Rechtsanwalt an. Mit wenigen Worten erklärte er ihnen die Lage.
Mit einer Kanne frisch gebrühtem Tee kehrte Frau Möller zurück. Sie fragte: „Mit wem hast du telefoniert?“ „Mit Willi, unseren Rechtsanwalt und Doktor Arendt. Es sieht schlecht aus. Beide bestätigten die Aussage von Frau Bayer. Doktor Arendt schlug mir eine andere Möglichkeit vor. Es wäre ein einfacher Weg ohne große Bürokratie.“
„Und was“, fragte Angie.
„Er kennt in der Schweiz ein privates Haus, wo sie schwangere Mädchen aufnehmen. Während des Aufenthalts werden sie unterrichtet und verlieren nicht den Anschluss an die Schule. Die Entbindung findet in eine Privatklinik statt. Es ist bestens organisiert. Was haltet ihr von dem Vorschlag?“
„Das kostet bestimmt viel Geld“, sagte Angie. „Das spielt keine Rolle. Könntest du dir vorstellen, dort hinzugehen?“ Sie sagte kein Wort, sondern schaute beschämt vor sich hin. Frau Möller tat nun ihre Meinung kund. „Ich denke, sie nehmen nur eine begrenzte Anzahl an Mädchen auf, das bedeutet, schnelles Handeln ist angesagt, falls du dich dafür entscheidest. Ich möchte dich nicht beeinflussen, jedoch bedenke, was dich hier erwartet. Eine zermürbende Bürokratie mit ungewissem Ausgang. Was passiert, wenn der Abbruch abgelehnt wird? Willst du mit einem dicken Bauch zur Schule gehen? Was sagst du deinen Mitschülerinnen? Kannst du dir das Spießruten laufen vorstellen?“ Angies Gedanken schwirrten wild durch ihren Kopf. Leise sagte sie zu ihrer Mutter: „So weit überlegte ich nicht.“
„Dass du nicht überlegst, das sehen wir, brummte ihr Vater. Hättest du früher den Mund aufgemacht, dann brauchten wir uns jetzt nicht den Kopf zu zerbrechen.“ „Richard! Vorwürfe bringen uns auch nicht weiter.“ Angie brach in Tränen aus. Frau Möller warf ihrem Mann einen wütenden Blick zu. „Schau, was du angerichtet hast. Komm Angie, ich bring dich nach oben.“ Sie setzte sich auf den Bettrand und hielt Angies Hand. „Papa meinte es nicht so. Bei uns allen liegen die Nerven blank. Die Idee mit der Schweiz ist nicht schlecht. Dort wärst du mit Gleichgesinnten zusammen und brauchst dich vor keinem zu rechtfertigen. Auf diese Weise sammelst du Kraft für die Geburt. Hier wird es auf jeden Fall schwieriger für dich. Schlaf jetzt erst einmal und morgen reden wir weiter. Gute Nacht, Angie.“
Als sie alleine waren fragte Frau Möller ihren Mann: „Was denkst du?“ „Ich weiß nicht was richtig oder falsch ist, glaube aber, dass es am einfachsten wäre, wenn sie dort hin ginge.“
Frau Möller zuckte zusammen, als Angie plötzlich im Raum stand. Sie waren vor dem Fernseher eingeschlafen. Sie stupste ihren Mann an und schaltete den Fernseher aus. Angies Vater schaute verstört hoch und es dauerte eine Weile, bis er zurück in die Realität fand. Angie blieb stocksteif auf der Stelle stehen. „Ich konnte nicht schlafen, überlegte hin und her, wog alle Vor- und Nachteile gegeneinander ab und entschied mich in die Schweiz zu gehen.“ Ihre Eltern sprangen auf und umarmten Angie. Sie wirkten erleichtert. Angie konnte sich nicht des Gefühls erwehren, dass die Erleichterung ihrer Eltern nicht ihr galt, sondern ihnen selbst, weil sie einen Skandal verhindern wollten.
Herr Möller rief am nächsten Tag Doktor Arendt an und bat ihn, alles in die Wege zu leiten. Bereits nach drei Tagen erhielten sie Bescheid, dass Ende April ein Platz zur Verfügung stand.
Dieser Termin passte hervorragend, weil er genau in den Osterferien lag, so dass Angie bis zu Beginn der Ferien am Unterricht teilnehmen konnte und anschließend nicht mehr in die Schule zurückkehrte.
Frau Möller, ganz Geschäftsfrau, organisierte alles bis ins kleinste Detail. Sie beschloss, Angie alleine zu begleiten. Sie hoffte, wenn sie die letzten Tage gemeinsam verbrachten, ließe sich das Versäumte nachholen. Das Abreisedatum setzte man auf den zwanzigsten April fest. An ihrem letzten Schultag bekam Angie eine persönliche Beurteilung ihrer Leistungen. Frau Kumbrow wünschte ihr viel Glück und Kraft und sagte: „Du weißt, dass du mich zu jeder Zeit