Frau Kumbrow wiegte sie hin und her, um sie zu beruhigen. „Weine! Weine ruhig, das befreit.“ Kurze Zeit später kam die Pädagogin in ihr zum Vorschein und fragte: „Warum glaubst du, jetzt schwanger zu sein?“ „Ich spürte in der Nacht ein Rumoren in meinem Bauch, ähnlich wie Blähungen. Wenn ich meine Hand auf den Bauch legte, fühlte es sich an, als wenn jemand dagegen stößt. Morgens im Bad sah ich, wie sich etwas bewegte. Ich geriet sofort in Aufruhr. Es passierte genau an meinem Geburtstag, das liegt eine Woche zurück. Seitdem traten die Symptome wiederholt auf. Ich verdrängte die Realität. Inzwischen weiß ich, dass es falsch war.“ „Richtig! Zuerst musst du einen neuen Test machen, dann sehen wir weiter. Ich besorge die nötigen Utensilien und du kommst morgen nach der Schule zu mir.“ „Warum helfen sie mir?“ „Weil du mir am Herzen liegst.“
Um ihre Nervosität zu überspielen, während sie auf das Testergebnis wartete, fragte Angie: „Warum haben sie keine Kinder? Sie wären bestimmt eine gute Mutter.“ Frau Kumbrow stand auf, nahm eine Fotografie von der Anrichte und reichte sie Angie. „Das ist mein Sohn. Er kam im Alter von zwanzig Jahren bei einem Autounfall ums Leben. Das liegt jetzt zehn Jahren zurück. Aus diesem Grunde berührte mich die Nachricht von deinem Unfall besonders. Seit gestern, weiß ich, dass dir Schlimmeres passierte.“ Sie holte eine zweite Fotografie. „Das war mein Mann. Über den Tod unseres geliebten Sohnes kam er nie hinweg und erlitt ein halbes Jahr später einen Schlaganfall, an dem er zwei Monate später verstarb. Seitdem lebe ich alleine und lege meine ganze Kraft in den Beruf. Es hilft weiterzuleben.“ Angie sagte: „Es ist traurig, wie wenig man von seinen Mitmenschen weiß und welches Schicksal jeder mit sich herum trägt.“
Frau Kumbrow stellte die Bilder zurück. „Die Zeit ist um, trauen wir uns der Wahrheit ins Auge zu sehen.“ Das Ergebnis ließ keine Zweifel aufkommen und bestätigte eindeutig die Schwangerschaft. „Was nun? Ich kann das Kind nicht bekommen.“ „Das Wichtigste ist, umgehend mit deinen Eltern zu reden. Daran führt kein Weg vorbei. Wenn du möchtest begleite ich dich.“
Als Sie das Haus betraten, hörte Angie ihre Mutter im Wohnzimmer telefonieren. Frau Möller schaute erstaunt in ihre Gesichter, beendete ihr Gespräch und fragte: „Ist etwas passiert?“ „Ja, Mama. Ich muss mit euch sprechen. Wo ist Papa?“ „Es überrascht mich, deine Lehrerin hier zu sehen. Gibt es Probleme in der Schule?“ „Nein, ihre Tochter fürchtet sich vor dem Gespräch und bat mich, sie zu unterstützen.“ „Wenn es nicht die Schule betrifft, sehe ich keine Veranlassung, dass sie sich in unsere privaten Angelegenheiten einmischen. Ich glaube meine Tochter ist alt genug, um eventuelle Probleme mit mir alleine zu besprechen.“ „Mama bitte! Hole Papa dazu. Sitzt er oben im Büro?“ „Angie, du weißt wie schwer dein Vater arbeitet und dass er für Teenagerprobleme keine Zeit hat. Ich schätze, dass wir deine eventuellen Schwierigkeiten ohne ihn bewältigen können. So schlimm werden sie ja nicht sein.“
„Entschuldigung, jetzt wundert es mich nicht, dass ihre Tochter zu mir kommt und mich ins Vertrauen zieht.“ Ihr Tonfall wurde laut und dominierend. Herr Möller eilte die Treppe herunter und rief, „was ist das für ein Lärm?“ Als er Angies Lehrerin erblickte, blieb er augenblicklich im Türrahmen stehen. „Welchem Grund verdanken wir ihrem Besuch?“ „Das sagte ich bereits ihrer Gattin.“ „Papa, ich muss mit euch beiden sprechen.“ „Muss das jetzt sein? Dann mach`s kurz!“ Eingeschüchtert blickte Angie Hilfe suchend zu Frau Kumbrow. Diese ergriff das Wort: „Seitdem ihre Tochter nach dem Unfall wieder am Unterricht teilnahm, bemerkte ich, dass sie sich von Tag zu Tag, stark veränderte. Sie wirkte traurig und oft abwesend. Ich bot ihr an, dass sie sich jederzeit an mich wenden kann, falls sie ein Problem hat. Gestern kam sie zu mir, erzählte mir von der Vergewaltigung und das sie Schlimmeres befürchtete. Was sich inzwischen bestätigte.“
>>> Ihre Tochter ist schwanger <<<
Es herrschte Totenstille. Herr Möller ließ sich neben seine Frau auf das Sofa fallen. Beide waren starr vor Schreck. Angie blickte abwechselnd zwischen ihren Eltern hin und her. „Nun kennt ihr den Grund, warum ich meine Lehrerin bat mir zu helfen. Ich fürchtete mich, alleine mit euch zu sprechen. Was machen wir jetzt? Ich will das Kind nicht.“ „Natürlich nicht“, sagte Herr Möller. „Das muss schnell und diskret über die Bühne gehen, bevor man etwas merkt. Ich rufe sofort Doktor Arendt an, er weiß sicher, was zu tun ist.“ Frau Kumbrow meldete sich wieder zu Wort und erklärte ihnen, dass die Situation nicht so einfach ist, wie sie sich vorstellten. Die Schwangerschaft ist bereits weit fortgeschritten, was einen Abbruch erschwert. Ich glaube kaum, dass ihr befreundeter Arzt wegen einem illegalen Abbruch seine Zulassung riskiert. Sie sollten umgehend die Beratungsstelle von Pro Familia kontaktieren. Eine Bekannte von mir arbeitet dort. Ich kann versuchen, dass sie kurzfristig einen Termin erhalten. Die Zeit drängt. Noch im Schockzustand sagte Herr Möller: „Wir nehmen gerne ihr Angebot an. Danke, und entschuldigen sie unsere anfängliche Unfreundlichkeit.“ Daraufhin verließ Frau Kumbrow das Haus.
„Auf den Schock brauche ich einen Drink.“ Ohne zu fragen reichte er auch seiner Frau ein Glas. Zu Angie gewandt sagte sie: „Musstest du eine derartige Angelegenheit mit deiner Lehrerin besprechen? Vertraust du deinen eigenen Eltern nicht?“
„Mit Vertrauen hat das nicht zu tun, sondern damit, dass ihr nie Zeit habt. Entweder seit ihr im Stress oder es sind fremde Leute hier. Natürlich glaubt ihr, mir alles zu geben, aber dabei handelt es sich überwiegend um materielle Dinge. Während ich im Krankenhaus lag, bildete ich mir für kurze Zeit ein, dass ihr euch um mich sorgt, leider war das nur eine vorübergehende Anwandlung. Nachdem meine körperlichen Gebrechen verheilten, gingt ihr zur gewohnten Tagesordnung über. Dass ich Nacht für Nacht schlaflos im Bett lag und den Albtraum immer wieder durchlebt habe, davon habt ihr nichts gespürt. Selbst jetzt, zeigt mir euer Verhalten, dass ihr mehr um einen Skandal besorgt seid, als meinetwegen.“ „Entschuldige Angie, denkst du wirklich so über uns und glaubst, dass wir dich vernachlässigen?“
„Ja, irgendwie schon.“ „Das stimmt aber nicht. Wir lieben dich und wollen nur das Beste. Vielleicht fehlt uns die Gabe, dir zu zeigen, wie sehr wir dich lieben.“ Herr Möller trat auf Angie zu und sagte: „Es tut uns weh zu erfahren, dass du dich in all den Jahren ungeliebt fühltest, aber wie deine Mutter schon sagte, stimmt das nicht.“ Angie zuckte mit den Schultern und schaute zu Boden.
„Ich denke für heute lassen wir es gut sein. Jedes weitere Wort führt im Moment zu nichts. Deine Mutter und ich müssen das Gehörte erst einmal verdauen. Morgen nehmen wir gemeinsam dein Problem in Angriff.“ „Du hast Recht.“ Ohne ein weiteres Wort verließ Angie den Raum und knallte die Tür hinter sich zu.
Sie schaute aus dem Fenster ihres Zimmers und blickte in den Garten, wie der Mond durch die Bäume schimmerte. Sie überlegte, was trieb ihre Eltern, wie besessen, immer weiter dem Erfolg hinterher zu hetzen? Einmal belauschte sie ein Gespräch ihrer Großeltern, als sie wütend waren, weil ihre Eltern zum wiederholten Mal ihren Wochenendbesuch absagten. Sie verstand nur Wortfetzen, wir sind ihnen wohl nicht mehr gut genug, wollen immer höher hinaus, irgendwann werden sie auf die Nase fallen. Sie war damals zu klein, um zu verstehen, was die Großeltern meinten. Später erfuhr sie die ganze Geschichte.
Ihre Eltern kannten sich seit Kindertagen. Sie kamen beide aus gutbürgerlichen Familien, die sie selber als spießig bezeichneten. Bis zur mittleren Reife besuchten sie die gleiche Schule in Rosenheim. Richard begann nach der Schule eine Lehre zum Bürokaufmann und Helen machte eine Verkaufslehre in einem Bekleidungsgeschäft.
Beide