Der dunkle Ort. Nadine Zacher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nadine Zacher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738077858
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gar nicht der Wahrheit entsprochen hat?“

      „Wenn du dich an die Nacht damals erinnerst, siehst du dann all das genau vor dir? Alles, was passiert ist, und auch die tote Paula?“

      „Ja.“ Ich schließe die Augen und sehe sofort einzelne Bilder, Schnappschüsse, aus jener Nacht vor mir. „Ich sehe seit vierunddreißig Jahren immer die genau gleichen Bilder, aus genau der gleichen Perspektive, immer den gleichen Ablauf. Wie eingebrannt. Und ich sehe Paula tot auf dem Wohnzimmerteppich liegen. Ihr hat, verdammt noch mal, der halbe Kopf gefehlt.“

      Frank sieht mich aufmerksam und ernst an, als würden gerade die Gedanken in seinem Kopf ineinander greifen und als wäre er sich nur noch nicht sicher, ob diese Gedanken zu der Frau vor ihm passen.

      „Erzähl mir, was nach dieser Nacht passiert ist, wie es dann weiter ging, mit dir meine ich.“

      „Ich war viel bei Frederik“, erzähle ich jetzt und erinnere mich nur verschwommen an diese erste Zeit danach zurück. „Ich weiß nicht, daran erinnere ich mich viel weniger genau als an diese Nacht. Auf jeden Fall war ich den Rest der Nacht und auch den folgenden Tag über bei Frederik, bis alles in Gang kam, die Ermittlungen und so. Vielleicht war ich auch länger da, ich weiß es nicht, das verschwimmt alles irgendwie. Auf jeden Fall habe ich Frederik ständig gesehen in dieser Zeit.“

      „Wollte das deine Mutter so? Bist du nicht auch sofort danach psychologisch betreut worden?“

      „Doch, deswegen habe ich ihn ja ständig gesehen.“

      „Ihn? Soll das heißen Frederik war dein Therapeut in dieser Zeit?“, Frank scheint erstaunt und sieht mich gleichzeitig immer forschender an.

      „Ja.“ Ich zögere. „Stimmt etwas nicht damit?“

      „Ich weiß nicht, Frederik hatte, soviel ich weiß, nie etwas mit Kinderpsychologie zu tun. Ich meine, er ist fachlich unglaublich kompetent, und ich kenne seine Arbeit, aber er war einfach nie ein Kindertherapeut. Und er war so nah dran an euch, an allem, warum hat er dir nicht einen Kollegen besorgt, der sich mit traumatischen Erlebnissen bei Kindern auskannte?“

      „Ich weiß nicht“, antworte ich verwirrt. „Vielleicht wollte er einfach meiner Mutter einen Gefallen tun.“

      „Ja, vielleicht.“ Frank wirkt nicht überzeugt. „Erzähl mir noch mehr. Wie war das, die Therapie bei Frederik, an was kannst du dich noch erinnern?“

      Ich muss mich anstrengen, um die Erinnerung an ein paar brauchbare Informationen zurückzuholen.

      „Die Sitzungen bei Frederik fingen, glaube ich, ein paar Tage nach dieser Nacht an. Am Anfang musste ich wahnsinnig oft dahin, in seine Praxis, die er damals hatte. Ich glaube in den ersten zwei Wochen war ich täglich da. Meine Mutter brachte mich hin und holte mich ab. Ein paar Mal brachten mich auch irgendwelche Leute von der Polizei hin. Dann, nach einer Weile, vielleicht waren es zwei Wochen, wurden die Sitzungen seltener, und irgendwann musste ich nur noch alle paar Monate zu Kontrollterminen, zu denen ich nie wollte.“

      „Was weißt du noch aus den Sitzungen mit Frederik? Wie liefen die ab, wie war er und auf welche Weise habt ihr über all das, was passiert war, geredet?“

      Ich versuche nachzudenken, zurückzudenken, mich zu erinnern, aber da ist nichts. Ich sehe vage vor mir, wie das Therapiezimmer in Frederiks Praxis ausgesehen hat, und ich kann mich auch noch grob an das Wartezimmer erinnern. Frederiks Sekretärin oder Arzthelferin hieß Doris, sie war blond und sehr nett, das weiß ich noch. Aber alles andere fühlt sich wie ein nebliges, graues Loch an.

      „Nichts“, sage ich jetzt erschrocken. „Ich erinnere mich an gar nichts mehr.“

      Ich spüre, wie mir die Tränen übers Gesicht laufen und ich erneut das Gefühl habe, dass alle Kraft meinen Körper verlässt.

      „Wir sollten jetzt erst einmal schlafen“, sagt Frank jetzt ganz ruhig, „und morgen weiter überlegen. Es ist schon spät, und du bist völlig erschöpft. Ich gebe dir was, damit du ein paar Stunden durchschlafen kannst.“

      Es ist gut, sich in den Schlaf zu flüchten, auch wenn ich erst nicht daran glaube, dass mir das heute Nacht gelingen wird. Aber was auch immer mir Frank gegeben hat, es wirkt schnell. Ich spüre nur noch, wie eine zusätzliche Decke über mir ausgebreitet wird und wie dann alles dunkel und ruhig wird.

      Ich wache mit schweren Gliedern und ein wenig orientierungslos am nächsten Tag auf. Mein Körper scheint an diesem Tag nicht für Bewegung geschaffen zu sein und wird wie mit schweren Gewichten behangen auf der Couch gehalten.

      Dass ich für die Arbeit zu spät bin, ist mir sofort klar, aber beim Blick auf die Uhr stelle ich jetzt erschrocken fest, dass mich Franks Schlaftabletten bis zum nächsten Nachmittag außer Gefecht gesetzt haben. Die Sonne steht schon wieder tief am Himmel, es ist schon fast drei Uhr.

      Auf dem Couchtisch sehe ich diverse Utensilien für mich ausgebreitet, wie ein liebevoller Erstehilfe-Kasten nach einem schrecklichen Abend und einer anstrengenden Nacht. Ein Glas Wasser, eine Packung Kopfschmerztabletten, eine Thermoskanne mit Kaffee, ein Stapel Bücher und ein Zettel, auf dem mir Frank mitteilt, er sei gegen sechs von der Arbeit zurück. Ich solle ruhig solange bei ihm bleiben, mir die Bücher ansehen, die er rausgelegt hat, und mir ansonsten erst mal keine Sorgen machen. Außerdem habe er bei meiner Arbeit angerufen und mich für heute krank gemeldet. Ich merke, wie mir abermals die Tränen in die Augen schießen, diesmal aber vor Dankbarkeit, dass ich Frank habe.

      Auf dem Couchtisch liegen mindestens vier, fünf Bücher, die an vielen Stellen mit kleinen, gelben Post-its versehen sind. Ich halte den Kopf schräg, um die Titel lesen zu können. Allesamt sind psychologische Fachbücher, sogar eins über Freud. Doch bevor ich auch nur ein Buch anheben kann, brauche ich zunächst andere Maßnahmen. Ich nehme mir zwei von den Kopfschmerztabletten, gehe unter die Dusche und koche frischen Kaffee.

      Ich greife mir das erste Buch vom Stapel, das sich laut Titel mit der Psychoanalyse und dem Einsatz von Hypnose beschäftigt, und fange beim ersten Post-it an zu lesen.

      Ich lese, was Freud über frühkindliche Erinnerungen gedacht hat, dass diese oft keine Abbilder der Wirklichkeit sind, sondern eher Gedächtnistäuschungen, mit deren Hilfe man später den Geschehnissen, die sich tatsächlich zugetragen haben, ausweichen kann. Dementsprechend hält es Freud für ein Hauptziel der Psychoanalyse, die wirkliche Realität aufzudecken, die hinter diesen falschen Erinnerungen steckt.

      Freud. Ich wusste nie so richtig, was ich davon halten soll. Ich lese weiter über Erinnerungen in der Therapie, lese, dass der Psychoanalytiker selbst immer die Art und Weise, wie sich ein Patient in der Therapie an etwas erinnert beeinflusst, unausweichlich, ob er will oder nicht.

      Jetzt geht es um Hypnose, und ich lese, dass Freud immer auf den Einsatz von Hypnose in der Therapie verzichtet hat, weil er herausfand, dass die so zutage geförderten Erinnerungen häufig ausgedacht waren. Irgendetwas in mir fühlt sich nicht mehr gut an. Hier steht es, schwarz auf weiß, dass hypnotisierbare Individuen bei entsprechenden hypnotischen Befehlen dazu neigen, Gedächtnistäuschungen zu produzieren.

      Ich überlege und komme zu dem beunruhigenden Schluss, dass man sich also, egal ob mit oder ohne Therapie, in keiner Weise auf seine Erinnerungen verlassen kann. Man hat Experimente gemacht, natürlich. Irgendwann gab es ja immer Experimente zu irgendetwas, und man fand heraus, dass Versuchspersonen, die einem starken sozialen Druck zur Hervorbringung bestimmter Erinnerungen ausgesetzt waren, sich häufig an Ereignisse erinnerten, die nie stattgefunden hatten.

      Wie kann das möglich sein, denke ich, wie können wir nur so schwach sein, so beeinflussbar, so angreifbar. Alles erscheint mir jetzt gerade wie eine einzige gigantische Fehlkonstruktion.

      Ein Name taucht jetzt immer wieder auf. Elisabeth Loftus, eine amerikanische Forscherin, auch so eine die herumexperimentiert hat. Tatsächlich beschäftigt sich gleich ein ganzes Buch mit ihr und ihren Experimenten, und als ich zu lesen beginne, bin ich sofort gefesselt von dieser Frau und ihren ungewöhnlichen Versuchen. Implantierte Erinnerungen nennt man das, schon wieder so eine Fehlkonstruktion, irgendwie sind wir wirklich Mangelware.

      Beschrieben